von Christian Steubing (19/4)

Streift man durch Venedig, stößt man allenthalben auf Bauten von Carlo Scarpa (1906-78). Das ist wenig verwunderlich, denn der venezianische Stararchitekt darf getrost als gestalterisches Mastermind seiner Heimatstadt bezeichnet werden. Zeitlebens hat er sich eng verbunden gefühlt mit Venedig und hier einen großen Teil seiner Arbeiten verwirklicht. Bestens bekannt sind der Olivetti-Showroom, der Ende der 1950er Jahre am Markusplatz entstand, der Palazzo Querini Stampalia und natürlich seine Bauten in den venezianischen Giardini: der mittlerweile ungenutzte gläserne Ticket-Kiosk aus den 1950er Jahren, der außergewöhnliche Pavillon Venezuelas aus den späten 1960er Jahren sowie zahlreiche Veränderungen und Interventionen am Palazzo Centrale.

Buchpavillon

Venedig, Buchpavillon Biennale di Venezia, 1956 (Bild: historische Abbildung, vor 1984, Bildquelle: Abondandolo, Ilaria, Carlo Scarpa e la forma delle parole, Katalog, Venedig 2010, S. 25)

Als Ausgangspunkt dieses kleinen Architektenporträts soll der – leider 1984 abgebrannte – Buchpavillon in Venedig dienen. In diesem Pavillon, der im Grunde eine kleine Bibliothek der Biennale war, verbinden sich zwei Leidenschaften Scarpas: Architektur und Typografie – symbolisch in der Funktion des Baus, tatsächlich im Design für die Tafel vor dem Eingang. Hat man einmal den Blick dafür geschärft, fällt Scarpas intensive archigrafische Arbeit auf. Dennoch ist sein typografisches Werk noch wenig bekannt. Einzig eine Ausstellung in Florenz im Jahr 2011 widmete sich diesem Aspekt.

Sprache besaß für Scarpa einen hohen Stellenwert. Er hatte ein ausgeprägtes Interesse an Literatur, insbesondere an Poesie, kannte sich erstaunlich gut in der zeitgenössischen Literatur aus. Sein besonderes Augenmerk galt den Klassikern: Baudelaire, Rimbaud, Shelley und Keats, Heine, Kleist und vor allem Leopardi, dessen Gedichte er rezitieren konnte. Vieles las er im Original, da Gedichte für ihn nur in der Sprache ihres Verfassers ihre wahre Poesie entfalten konnten. Der Wert, den er jedem Wort und jedem einzelnen Buchstaben zumaß, wird in seiner Arbeit deutlich: Er setzte Schrift in fast all seinen Projekten ein, sie ist elementarer Bestandteil der architektonischen Komposition und ästhetischen Konstruktion. Selten hat er sie einfach nur auf die Fassade gemalt; vielmehr ist sie direkt in den Beton gegossen, als Intarsie in Holz gesetzt oder wie bei antiken Inschriften direkt in den Stein gemeißelt. Immer korrespondiert sie sowohl mit den architektonischen Elementen als auch mit dem Kontext des jeweiligen Projekts. Schrift wurde in seinen Arbeiten zur Plastik, zur Architektur.

Schriften

Venedig, Olivetti-Store, Ende der 1950er Jahre (Bild: Jean-Pierre Dalbéra, CC BY 2.0, 2012)

Viele Schriften entwarf Scarpa selbst. Dabei war er kein Schriftgestalter im herkömmlichen Sinne, denn er schuf keine allgemeingültigen, für Fließtexte einsetzbare Typen. Sie waren nicht zur Vervielfältigung gedacht, sondern immer auf das jeweilige Projekt bezogen. In seinen Entwürfen suchte er nach einer plastischen, materiellen Entsprechung der Worte, wodurch viele seiner Schriften einen figurativen, skulpturalen Charakter bekamen. Stilistisch lassen sich seine typografischen Arbeiten genauso wenig eindeutig zuordnen wie sein architektonisches Schaffen. Mal konstruierte er eine Schrift aus streng geometrischen Formen, mal fügte er organische Elemente hinzu, ein anderes Mal schichtete er, von japanischen Schriftzeichen inspiriert, breite Linien übereinander. Gerne ließ er sich auch von historischen Schriften inspirieren – Venedig war im 14. und 15. Jahrhundert eines der wichtigsten Zentren für die Entwicklung der Serifenschrift.

Zudem war er stark vom Funktionalismus und Konstruktivismus des frühen 20. Jahrhunderts beeinflusst. So lassen sich deutliche Referenzen zu Schriften erkennen, die unter Josef Albers und Joost Schmidt am Bauhaus entstanden sind. Auch bestehen Analogien zu Schriften Theo van Doesburgs, einem Begründer der Künstlervereinigung De Stijl, und dem ebenfalls niederländischen Typografen Wim Crouwel, dessen Schriften in den 1950er und 1960er Jahren für internationales Aufsehen sorgten. Scarpa entwickelte dabei stets neue Ansätze und verlieh seinen Schriften zugleich etwas Italienisches. Geprägt sind seine Entwürfe stets von einem Gegensatz aus Moderne und der jahrhundertealten Tradition Venedigs. Er wünschte sich eine Gegenwart, die Innovation zulasse, aber die “Vergangenheit wie einen Freund sieht”.

Wortmarken

Venedig, Camping Fusina, Rezeption, 1957-60 (Bild: seier+seier, CC BY NC 2.0, 2012, via flickr.com)

Neben den Schriften, die er für eigene Architekturprojekte entwarf, gestaltete Scarpa auch Bücher und Logos. Bis zu seinem Tod im Jahr 1978 verwirklichte er darüber hinaus etwa 60 Projekte für Museen, bei denen er sowohl für das Ausstellungsdesign als auch für die Gestaltung der Kommunikationsmittel verantwortlich war. Noch bis vor Kurzem wurde das Logo verwendet, das er 1973 für die Erweiterung des Hauptgebäudes der Banca Popolare di Verona entwickelte. Der Campingplatz Fusina, den Scarpa von 1957 bis 1960 für die Festlandseite der Lagune von Venedig gestaltete, nutzt noch heute die Wortmarke Scarpas mit seiner am konstruktivistischen, beinahe am prä-Space-Design orientierten Typografie: rechtwinklig, streng im Quadrat als Majuskeln auf x-Höhe konstruiert, tief und golden eingraviert in den Beton des Rezeptionspavillons, asymmetrisch angebracht im Sockelbereich, unterhalb des Schmetterlingsdachs. Camping setzte er kokett in Anführungszeichen, antizipiert die edle Form der Anlage doch bereits das heutige Clamping-Feeling der Biennale-Besucher.

Literatur

Abondandolo, Ilaria, Carlo Scarpa e la forma delle parole, Katalog, Venedig 2010.

Bologna, Logo am Gavina-Showroom, um 1960 (Bild: seier+seier, CC BY NC 2.0, 2016, via flickr.com)

Titelmotiv: Bologna, Logo am Gavina-Showroom, um 1960 (Bild: seier+seier, CC BY NC 2.0, 2016, via flickr.com)



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