von Maximilian Kraemer (21/4)
Anfang der 1960er Jahre hatte das Wirtschaftswunder ganz Deutschland erfasst. Auch abseits der Metropolen wuchsen die Gemeinden und in einst verträumten Dörfern entstanden auf der sprichwörtlichen grünen Wiese neue Wohnhäuser. Nach Bad Friedrichshall zog es zum Beispiel Ingenieur:innen, die im benachbarten Neckarsulm Neuwagen entwarfen und Arbeiter:innen, die in Heilbronn Tütensuppen für die schnelle Küche der Nachkriegszeit verpackten. Bad Friedrichshall war erst in den 1930er Jahren durch einen Zusammenschluss mehrerer Orte gebildet worden und durfte sich seit 1951 Stadt nennen. Doch dem neuen Stadtkonstrukt fehlte eine zentrale Mitte mit urbanem Flair. Deshalb schrieb die Gemeinde 1960 einen Bauwettbewerb aus, der ein Stadtzentrum mit öffentlicher Aula, Feuerwehrmagazin, Realschule und Rathaus forderte. Das dafür vorgesehene Grundstück am Ufer des kleinen Flusses Kocher stellte die Architekt:innen vor eine ungewöhnliche Aufgabe: Wie ließ sich das idyllische Fleckchen Natur in ein repräsentatives Stadtzentrum verwandeln?
Bad Friedrichshall, Mittelschule, Pausenhalle (Bild: saai | Archiv für Architektur und Ingenieurbau, KIT, Werkarchiv Roland Ostertag, Foto: Marianne Götz)
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Ostertag erhält den Zuschlag
Manche Architekt:innen versuchten es mit Hochhäusern, die in diesem Umfeld zweifellos dominant hervorgetreten wären. Doch beschritt man in Bad Friedrichshall einen anderen Weg: 1961 beschloss der Gemeinderat dem gerade dreißig Jahre alt gewordenen Architekten Roland Ostertag (1931-2018) den Bauauftrag zu erteilen. Er hatte im Wettbewerb den zweiten Preis erhalten. In Architekt:innenkreisen war Ostertag kein Unbekannter, seitdem er auch in Kaiserslautern und in Mannheim damit beauftragt worden war, neue Rathäuser zu planen. Seine Entwürfe zierten die Titelblätter von Fachzeitschriften wie etwa der db (Deutsche Bauzeitung).
Ostertags Stadtzentrum zeichnete sich durch vergleichsweise niedrige Baukörper aus. Das Rathaus mit fünf Geschossen war zugunsten eines großen Marktplatzes weit von der erschließenden Straße zurückversetzt. Östlich schlossen sich die Aula und die Schule als kombinierte Baugruppe an. Zwischen den Gebäuden blieb dabei genug Platz für einen großen Freiluft-Pausenhof und eine Grünanlage mit Spazierwegen.
Bad Friedrichshall, Mittelschule, Erweiterungsbau (Bild: Maximilian Kraemer)
Eine Mittelschule in drei Abschnitten
Aus finanziellen Gründen wurde das Bauvorhaben in drei Abschnitte aufgeteilt. Da es in Bad Friedrichshall zwar eine Menge schulpflichtige Kinder, aber noch keine weiterführende Schule gab, stand die damals noch „Mittelschule“ genannte Realschule ganz oben auf der Agenda. Bereits 1962 wurde mit dem Bau begonnen und 1965 konnte die Einweihung des ersten Abschnitts gefeiert werden. Parallel zur Errichtung des Rathauses erhielt die Schule bis 1967 einen weiteren L-förmigen Trakt. Um 2000 wurde die Schule im Osten und Westen vom Architekturbüro Ostertag + Partner erweitert.
Der erste Bauabschnitt umfasste drei dreigeschossige, gestaffelte Trakte, die nach Südwesten von der öffentlichen Aula und nach Nordosten von einem eingeschossigen Flügel für die Schulverwaltung flankiert werden. Im Südosten schließt sich der im zweiten Abschnitt ergänzte Trakt an.
Bad Friedrichshall, Mittelschule, Fahrradüberdachung (Bild: Maximilian Kraemer)
Sicht- und Waschbeton
Formal läuteten kubische Baukörper und Flachdächer nach den teils traditionellen, teils organisch-unregelmäßigen Schulen der 1950er Jahre eine neue Zeit ein. Tragende Teile waren aus Sichtbeton gegossen, nichttragende bestanden aus Waschbeton. Portale aus Sichtbeton markieren die Eingänge, die an der Ost- und Westseite des Gebäudes liegen. Mit unverkleideten Wänden und Decken entspricht die Realschule der charakteristisch rohen Ästhetik des Brutalismus. Nach Norden gibt sie sich verschlossen. Schlanke Fensterbänder und Verglasungen durchbrechen nur an wenigen Stellen die Fassade. Dahinter verbergen sich die Flure und Treppenhäuser, die das Ensemble von der Straße abschirmen.
Ganz anders sieht die Südseite des Gebäudes aus. Hier ermöglichen breite Fensterfronten in allzu langweiligen Unterrichtsstunden einen schönen Ausblick ins Grüne. Dank Pflanztrögen im Foyer und Holzpflasterung auf dem Boden holte Ostertag die Natur auch in das Innere der Schule. Verspielt wirken die plastischen Überdachungen am Ost-Eingang, die keinem anderen Zweck dienen, als Fahrräder vor Regen zu schützen. Die monolithischen Plastiken aus Beton sind mit ihrer V-förmigen Dachfläche, die man als Schmetterlingsdach bezeichnet, ein echter Hingucker. Selbst die lässigsten Teenager dürfte diese kühne Konstruktion nicht ganz kalt gelassen haben, während sie ihre Bonanza-Räder darunter parkten.
Bad Friedrichshall, Mittelschule, Grundriss (Bildquelle: Budde, Ferdinand/Theil, Hans Wolfram, Schulen. Handbuch für die Planung und Durchführung von Schulbauten, München 1969)
Eine Ostertag-Schule
Für den Architekten Roland Ostertag war die Realschule in Bad Friedrichshall ein wichtiger Bau, der seine Reputation im Schulbau stärkte – dutzende weiterer Schulentwürfe folgten. Deshalb überrascht es nicht, dass man heute nur wenige Gehminuten entfernt bereits auf den nächsten Bildungsbau aus der Feder von Ostertag + Partner trifft: das Friedrich-von-Alberti-Gymnasium aus den 1990er Jahren.
Literatur
db Deutsche Bauzeitung, 1966, 9, S. 731.
Budde, Ferdinand/Theil, Hans Wolfram, Schulen. Handbuch für die Planung und Durchführung von Schulbauten, München 1969, S. 177.
Beton, Glas und Büffelleder. Verwalten in Denkmalen der 1960er und 1970er Jahre (Arbeitsheft 30), hg. vom Regierungspräsidium Stuttgart/Landesamt für Denkmalpflege, Darmstadt 2014.
Titelmotiv: Bad Friedrichshall, Mittelschule, Nordseite (Bild: saai | Archiv für Architektur und Ingenieurbau, KIT, Werkarchiv Roland Ostertag, Foto: Marianne Götz)
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Bildungs(t)räume
Oliver Sukrow über die Moderne im Schulbau.
FACHBEITRAG: Waldorfschulen
Alexandra Vinzenz über das architektonische Konzept jenseits des Klischees.
FACHBEITRAG: Schulkollektiv und Polytechnik
Dina Dorothea Falbe über den DDR-Schulbau von Ludwig Deiters bis Helmut Trauzettel.
FACHBEITRAG: Farbenfrohe Schulhäuser von PJS
Arne Herbote über die Bildungsbauten des Büros Pysall, Jensen, Stahrenberg & Partner.
PORTRÄT: Ostertags Realschule in Bad Friedrichshall
Maximilian Kraemer über einen bemerkenswerten Schulbau des Architekten Roland Ostertag.
FOTOSTRECKE: Holzstuhl und Linoleumboden
Die bunte Welt der Lehrmittel im Spiegel der Werbebilder der Nachkriegszeit.
INTERVIEW: Gregor Zoyzoyla zum Europagymnasium Wörth
Der Architekturfotograf hat mit Schüler:innen einen modernen Bau erkundet.