von Verena Pfeiffer-Kloss (24/2)

Innerhalb eines persönlichen Raumerwanderungsprojekts hatte ich vergangenen Sommer die Möglichkeit, Bonn von Süd nach Nord, von der ehemaligen Ständigen Vertretung der DDR in Bad Godesberg bis zur Siegmündung am Mondorfer Hafen zu begehen. Auf diesem Weg kam ich durch das Regierungsviertel der ehemaligen Bundesrepublik, den UN-Campus und ging entlang etlicher Kilometer Ausfallstraßen. Überall dort begegneten mir Gebäude nach Entwurf von Ernst van Dorp (1920–2003) – allerdings ohne, dass ich den Architekten kannte. Van Dorp hat in fünf Jahrzehnten aktiver Berufslaufbahn, von den 1950er bis in die 1990er Jahre, 75 realisierte Gebäude entworfen, alleine 55 davon befinden sich in seiner Heimatstadt Bonn. Damit ist er im Grunde einer der Stadtarchitekten Bonns, tatsächlich aber ist er nahezu unbekannt. Nun nähere ich mich seinem Werk aus der Ferne mittels der bislang einzigen verfügbaren Publikation “Ein Bonner baut” von Andreas Pellens, die 2002 erschienen ist. Weitere Auskünfte gab mir das Rheinische Landesamt für Denkmalpflege, das die Unterschutzstellung einiger Bauten van Dorps bereits geprüft hat bzw. noch prüft.

Bonn, Atelierhaus Ernst van Dorp, 1966/67 (Bild: David Kasparek)

Ein hoher Wiedererkennungswert

Die Gebäude von Ernst van Dorp haben einen so hohen Wiedererkennungswert, dass ich mich beim Blick in das Buch daran erinnere, das eine oder andere, insbesondere jene für Industrie oder Behörden, damals vor Ort wahrgenommen zu haben. Ganz deutlich wahrnehmbar scheint in ihnen der Geist ihrer jeweiligen Entstehungzeit zu wohnen. Sei es das durchaus eher unangenehme Erschaudern beim Anblick der beinahe fensterlosen Straßenfront des Johannes-Hauses in Köln-Severin, das 1954 als „Heim zur Wiedereingliederung von Strafgefangenen und Nichtsesshaften“ entstand, oder das Gefühl einer unbestimmten Beklemmung beim Betrachten der frühen Villen wie beispielsweise dem Einfamilienhaus Töpfer in Bonn, wo große, massive Baukörper mit noch größeren stabilen Fenstern kombiniert zu sein scheinen. Vielleicht, um der neuen Zeit ein modernes und starkes Fundament zu errichten: Die Häuser jedenfalls versprühen ein Gefühl davon, wie sich die frühe Bundesrepublik angefühlt haben könnte. Das vermögen nicht allzu viele Bauten. Van Dorps Architektur zeichnet es aus.

Wenn man in die 1960er und 1970er Jahre blickt, werden seine Entwürfe leichter, ja sogar überraschend phantasievoll und frei. Es mag ebenfalls der Zeitgeist sein, der sich hier zeigt. Zwei Highlights in seinem Oeuvre stammen aus diesen Jahrzehnten: Es sind die Bonner Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amts von 1968 mitsamt ihren Erweiterungsbauten aus den Jahren 1992 bis 1995 und das riesenhafte Rathaus-Center, das 1973 allerdings nicht im beschaulichen Bonn, sondern in der (Noch-)Industrie- und Autobahnstadt Ludwigshafen eröffnet wurde. Im Rathaus-Center wiederum spukte der Zeitgeist so präsent, dass er der Stadt offenbar unheimlich wurde und nun mit dem Gebäude und den Hochstraßen verschwinden muss: Der Abriss ist derzeit im Gange. Die Ausbildungsstätte – im Volksmund „Diplomatenschule“ – in Bonn dagegen hat derzeit eine große Chance auf den Eintrag in die Denkmalliste.

Ludwigshafen, Rathaus-Center (Bild: Immanuel Giel, CC BY-SA 3.0)

Die Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amts

Der Baukomplex im Stadtteil Ippendorf besteht aus vier drei- bis viergeschossigen, kreuzförmig angeordneten Baukörpern, die über einen zentralen Erschließungspunkt miteinander verbunden sind. Die unterschiedlich dimensionierten Kreuzarme des 42.000 Quadratmeter umfassenden Baus sind rund 100 und rund 70 Meter lang, die Geschosshöhe variiert zwischen einem und sechs Geschossen. Trotz dieser Dimensionen wirkt das Gebäude nur aus der Luft sehr groß und massiv. Die terrassenförmige Anordnung der Geschosse mit teilweise weit vorkragenden Außenterrassen und Balkonen, die übereck gesetzten Schiebefenster und die nach oben abgeschrägten Brüstungen bewirken eine horizontale Dynamik und eine gewisse Leichtigkeit des Baukörpers. Zudem trägt die Gartenarchitektur von Jörg Strassberger dazu bei, dass das Gebäude mit der angrenzenden Waldlandschaft zu verschmelzen scheint. Schaut man ins Innere, fallen die sanften Kontraste zwischen Sichtbetonwänden, Kunststeinböden, schalldämmenden Teppichen, farbig gefassten Türen und runden Deckenelementen ins Auge. Zudem befinden sich etliche ursprüngliche Ausstattungselemente wie beispielsweise eiförmige Telefonzellen in den Fluren.

In den unteren Geschossen sind Unterrichts- und Aufenthaltsräume eingerichtet, die oberen Geschosse beherbergen die Unterkunftsräume für die Diplomatenschüler:innen. Sein ursprünglicher Zweck macht eine denkmalgerechte Weiternutzung des Gebäudes ohne große Umbauten recht einfach: Da die Zimmer bereits bauzeitlich für einen Hotelbetrieb in den unterrichtsfreien Zeiten konzipiert waren, liegt eine zukünftige Nutzung als Hotel auf der Hand. Der aktuelle Eigentümer der Immobilie strebt dies offenbar an, sodass nun dringend das Eintragungsverfahren in die Denkmalliste wiederholt werden sollte. Die bereits vor einigen Jahren erfolgte Eintragung des Gebäudes musste aufgrund einer Nutzungsklage des damaligen Besitzers widerrufen werden. Neuer Eigentümer, neue Chance für den Denkmalschutz? Bei dieser Gelegenheit sollte unbedingt geprüft werden, ob auch die Anbauten aus den 1990er Jahren schutzwürdig sind. Der quadratische Neubau im Norden des Areals sowie die gleichzeitig errichteten Pförtnerhäuser stammen ebenfalls aus der Feder Ernst van Dorps und fügen sich in Kubatur und Materialnutzung harmonisch an den Altbau an. Zudem handelt es sich dabei um den letzten Neubau, den die Bundesregierung in der ehemaligen Hauptstadt hat errichten lassen.

Bonn, Aus- und Fortbildungsstätte des Auswärtigen Amtes, Luftaufnahme, 2013 (Bild: Wolkenkratzer, CC BY-SA 3.0)

Von Bonn in die Welt und zurück

Den letzten Regierungsbau in Bonn entworfen zu haben, passt in die Biografie des Architekten: Ernst van Dorp wuchs in Bonn auf und verbrachte nicht nur die längste Zeit seines Lebens hier, er widmete der Stadt auch den weit überwiegenden Teil seiner Schaffenskraft. Seine enge Verbundenheit mit der Stadt zeigt nicht zuletzt seine Reaktion auf die Entscheidung der Regierung, nach Berlin umzuziehen: „Loss se jonn. Mir blieven he“ schrieb er am 20. Juni 1991 in das Gästebuch des Heimatmuseums Beuel, das er auch entworfen hatte. Es war der Tag des sogenannten Hauptstadtbeschlusses des Deutschen Bundestags. Gleichwohl, das zeigt das Gesamtwerk Ernst van Dorps, war er ein Architekt, der offen in die Welt blickte. Seine Bauten können sich mit den weltweiten Entwicklungen der Architekturgeschichte messen, was sicherlich mitunter seiner Ausbildungszeit im Ausland zu verdanken ist.

Nach einem Praktikum bei Egon Eiermann in Karlsruhe absolvierte van Dorp ein Scholarship am Massachusetts Institute of Technology, wo er Walter Gropius, Frank Lloyd Wright und Mies van der Rohe kennenlernte. Die Möglichkeit zum Studium an der Harvard University, die ihm Gropius Anfang der 1950er Jahre ermöglicht hätte, schlug er allerdings aus. Es war ihm wichtig, nach Bonn zurückzukehren und sich dort als niedergelassener Architekt am Aufbau der Stadt zu beteiligen. Beeindruckend sind die Bauten, die er kurz nach seiner Rückkehr nach Europa – noch unter dem Eindruck der in den USA gesehenen Architektur – von Bonn aus in der Welt schuf. Dies sind beispielsweise die Komplexe für den Convento Casa Raina do Mundo in Gouveia, Portugal (ab 1961), ein Ferienhaus für den Künstler und Werbefachmann Charles Wilp in Kenia (1965) und die neue Deutsche Botschaft in Brasilien.

Botschaften aus und in Bonn

Die Planung der Botschaft in Rio de Janeiro (ab 1971 Generalkonsulat, da die Botschaft in die Hauptstadt Brasilia umzog; heute verkauft an eine brasilianische Organisation) begann 1950, noch bevor Deutschland 1951 in Brasilien wieder eine Botschaftsrepräsentanz eröffnet hatte. Das historische Botschaftsgebäude, das bereits 1867 auf einem Hügel über der Stadt entstand, war für die neuen Konsularabteilungen zu klein. Daher wurde ein Ersatz geplant, der als der erste Neubau einer Botschaft der jungen Bundesrepublik gilt. Das Vertrauen in Ernst van Dorp musste also sehr groß gewesen sein, da das Projekt sowohl symbolisch als auch technisch Herausforderungen bot. Das Grundstück ist beengt, da es in eine 50 Meter hohe Granitwand gesprengt worden war. Dies lässt aufhorchen. Die Sprengung eines halben Berges, um ein Grundstück für eine Botschaft zu schaffen, klingt spektakulär, recht brutal und aus vielerlei Gründen nicht nach der jungen Bundesrepublik, die um 1950 für eine solche Aktion wohl weder genügend Geld und schon gar nicht das passende Standing in der Welt hatte. Tatsächlich, so zeigt es eine kleine Recherche im Rahmen dieses Artikels, lag das Grundstück bereits in seiner heutigen Form mit gesprengter Felswand vor, als die BRD es 1950 erwarb.

Dennoch: Dass der erste Botschaftsneubau der Bundesrepublik ausgerechnet in Brasilien stattfand, bleibt bemerkenswert. Umso symbolischer wird hier die Verwendung der internationalen Architektursprache der 1950er Jahre für das Botschaftsgebäude. Beschwingt und heiter kommt das Bauwerk in den Modellen daher, die Andreas Pellens in seinem Buch zeigt, berührt den Boden nur mit seinen Pelletons, wirkt im Modell wie ein Möbelstück, ganz als ob es leichtfüßig über das Grundstück tanze. Dieser Eindruck wird durch das lange, frei schwebende Vordach verstärkt, das in den Folgejahren zu einem Wahrzeichen der Architektur van Dorps werden sollte. Schaut man heute bei Google Street View, wirkt der Botschaftsbau allerdings sehr eingeengt, hineingedrückt in seine Felskante – eine steinerne Nische, die ganz offensichtlich nicht für ihn und seine transparente Leichtigkeit gemacht worden war. 1971 zog die Botschaft nach Brasilia in einen Bau von Hans Scharoun und van Dorps Gebäude in Rio wurde zum Generalkonsulat. Vor einigen Jahren hat es die Bundesrepublik Deutschland aufgegeben und an einen brasilianischen Wirtschaftsverband verkauft.

Nur wenige Jahre nach der Eröffnung der deutschen Botschaft in Rio zog die Niederländische Botschaft in das erste neu gebaute Botschaftsgebäude in Bonn ein, das ebenfalls auf einen Entwurf van Dorps zurückgeht. Der Haupttrakt ist gänzlich mit holländischen Ziegeln verkleidet, zeigt sich zurückhaltend, zweigeschossig und leicht geschwungen zur Straße, die in einem Wohnviertel liegt. Besonders bemerkenswert ist der zwei Stockwerke umfassende ultraleicht wirkende Glasbau auf der Gartenseite, der über einen mit aufwendig gestalteten Dachziegeln bedeckten Gang mit dem Haupttrakt verbunden ist. Ein Bau so leicht, so klein und so modern, dass er in den Niederlanden damals durchaus umstritten war und als eines der wenigen Bauwerke van Dorps in Bonn bereits Denkmalschutz genießt.

Bonn, Niederländische Botschaft, 1962–1964, (Bild: Jürgen Gregori, LVR-ADR 2009)

Theater der Postmoderne

Das Hotel Bristol von 1972, eine der van Dorp´schen architektonischen Großskulpturen mit der für seine Architektur typischen umgekehrten Deponderierung, hat den Sprung zum Denkmal nicht mehr geschafft. Es wurde Anfang 2024 abgerissen. Umso relevanter ist nun die Unterschutzstellung des 1967 fertiggestellten eigenen Büro- und Wohnhauses, an dem Ernst van Dorp seine auffällige Form der Attikaausprägung zum ersten Mal als Hauptgestaltungsprinzip einsetzte. Mit diesem Move beförderte er seine Architektur, die schon in den vorhergehenden Jahren nach und nach immer breitere Dachkrempen und größere Massivität des Baukörpers ausgeprägt hatte, von der Moderne in die Postmoderne. Neben dem klassizistisch wirkenden Glaskörper für das ZDF-Hauptstadtstudio (heute Phönix) ragen unter van Dorps Bauten der 1980er Jahre die ebenso neo-klassizistischen Theaterarkaden an der Bonner Brüdergasse heraus. Der langgestreckte Bau mit seinen hohen Arkadengängen vollzieht eine kleine Kurve und passt sich auch in anderen Details an das Bild historischer Altstädte an. Weißer Putz, tiefe Fensterlaibungen, reduzierte Stuckornamentik und geschwungene Dachpartien, die an das benachbarte Schloss ebenso erinnern wie an die sozialistischen Bauten der 1950er und 1980er Jahre in Dresden oder am Berliner Gendarmenmarkt, stellen einen beinahe radikalen Wandel in der Entwurfshaltung des Architekten dar. Wieder hat er die Zeichen der neuen Zeit in Gebäude gegossen.

Würde ich dieses Jahr nochmals durch Bonn wandern, würde ich den unheimlich starken Zeitgeist einiger Gebäude nicht einfach nur bemerken, sondern auch dem heimlichen Stadtarchitekten zuordnen können. Es bleibt zu hoffen, dass der Denkmalschutz dies auch den nächsten Generationen noch ermöglichen wird. Zudem arbeitet die Architektin Kerstin Würker derzeit an einer Promotion über Ernst van Dorp, mehr als 20 Jahre nach der letzten Veröffentlichung wird es also in absehbarer Zeit eine neue Aufarbeitung seines Werks geben. Die Botschaft in Rio übrigens, die auf der Homepage der neuen Besitzer als eine der architektonischen Landmarken der Stadt bezeichnet wird, macht keinen sonderlich gut erhaltenen Eindruck. Vielleicht ist die Bundesrepublik deswegen aus dem Bau ausgezogen. Oder umgekehrt. Vielleicht war es ihnen in der Nische auch einfach etwas zu eng geworden.

Bonn, Hotel Bristol, 2022 (Bild: David Kasparek)

Literatur

Pellens, Andreas, Ein Bonner baut. Eine Spurensuche. Ernst van Dorp 1950-2000, Bauen in Bonn und von Bonn aus, Bonn 2002.

Bonn, Theaterarkaden 1983/84 (Bild: Vanessa Lange, LVR-ADR)


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Bonusbeitrag

Inhalt

LEITARTIKEL: Hintergründe unseres Lebens

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David Kasparek über die einstige westdeutsche Repräsentationsarchitektur, die nicht alle ihre Planer berühmt machte.

FACHBEITRAG: Der heimliche Stadtarchitekt

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Verena Pfeiffer-Kloss über den Bonner Architekten Ernst van Dorp.

FACHBEITRAG: Das UFO ist gelandet und geblieben

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Dirk Meyhöfer über ein Gebäude, das einst die Maßstäbe sprengte – und heute der drohenden Monotonie entgegensteht.

FACHBEITRAG: Bundesdorf und Stieldorf

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Von staatstragend bis nachbarschaftlich – das Werk der Planungsgruppe Stieldorf.

PORTRÄT: Bonner Perspektiven

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Daniel Bartetzko über ein Buch, das die Bonner Republik unerwartet gut zu verstehen hilft.

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Von Transparenz, Ästhetik und Tausendfüßlern: Der NRW-Forschungsverband “Die Bonner Republik” im Gespräch mit mR.

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Ein Freischichtmuseum der Moderne – ein Gang über das ZDF-Sendegelände in Mainz-Lerchenberg.

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