von David Kasparek (24/2)

Die Rezeption der bundesdeutschen Architekturgeschichte zwischen 1965 und 1980 wirkt einigermaßen paradox. Auf der einen Seite gibt es da Bauten und Architekt:innen, die weitestgehend erforscht, gut dokumentiert, in Ausstellungen gezeigt und in sogenannten sozialen Medien zu Posting-Lieblingen und Like-Garanten geworden sind. Das – mit seiner Planungs- und Bauzeit ziemlich exakt diese Epoche abdeckende – Internationale Congress Centrum in Berlin ist so ein Beispiel, das nach Planungen von Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler zwischen 1966 und 1979 realisiert wurde – die Großkliniken in Aachen, zwischen 1969 und 1983 nach Entwürfen von Wolfgang Weber, Peter Brand und Partner umgesetzt, ein anderes. Die Arbeiten von Gottfried Böhm und Oswalt Mathias Ungers aus dieser Zeit sind ebenso mannigfach publiziert, wie der serielle Wohnungsbau Ost- und Westdeutschlands, der in jenen Jahren unterschiedliche Blüten hervorbrachte. Mit dem Brutalismus, der ebenfalls recht genau in den benannten Zeitraum fällt, hat es ein ganzer Stil zu Ausstellungen und millionenfach gefolgten und geliketen Hashtags gebracht. Über den Stand der Forschung der Konstruktionen von Ulrich Müther, Frei Otto oder Carlfried Mutschler legen zahlreiche Bücher Zeugnis ab. Doch abseits dieser „Big Names“ und „Big Beautiful Buildings“ gibt es einige Architekturbüros, die mit ihren Bauten die damalige Bundesrepublik Deutschland maßgeblich prägten und doch seltsam unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind, so zum Beispiel die Büros von Gehard Weber oder Ernst van Dorp, Pysall, Jensen, Stahrenberg & Partner oder die Planungsgruppe Stieldorf.

Mainz-Lerchenberg, ZDF-Sendezentrum (Bild: Januar 255, CC0)

Mainz-Lerchenberg, ZDF-Sendezentrum, Planungsgruppe Stieldorf 1978–1984 (Bild: Januar255, CC0)

Von der Unwirtlichkeit zur Wiederentdeckung

Wie weit 1965 zurückliegt, wie anders Deutschland und die Welt waren, wird deutlich, wenn man sich ein paar Dinge vor Augen ruft. Im März 1965 wird Sergio Leones Fim „Für eine Handvoll Dollar“ mit Clint Eastwood erstmals in den Kinos gezeigt, die Männermannschaft von Werder Bremen wird zum ersten Mal Meister der zwei Jahre zuvor gegründeten Fußball-Bundesliga, während in England mit „Help!“ das fünfte Album der Beatles veröffentlicht wird, gründet sich in Deutschland eine Rock-Band namens „Scorpions“. Ein gewisser Franz Beckenbauer macht am 28. September sein erstes Länderspiel, einen guten Monat später, am 31. Oktober, findet die Leipziger Beatdemo statt, die von Volkspolizei und Staatssicherheit unmittelbar nach Beginn gewaltsam aufgelöst wird und in deren Folge 264 Menschen festgenommenen, von denen 97 bis zu sechs Wochen zum „beaufsichtigten Arbeitseinsatz“ im Braunkohletagebau Kitzscher und Regis-Breitingen eingesetzt werden. In Westdeutschland ist Ludwig Erhard Bundeskanzler, in Ostdeutschland Walter Ulbricht Vorsitzender des Staatsrats.

Am 2. November 1965 nimmt die Ruhr-Universität in Bochum ihren Lehrbetrieb auf. Gut zwei Wochen später, am 28. November wird der Grundstein für die Universitätsbauten in Regensburg gelegt – zwei weitere Großprojekte, über die inzwischen vielfach diskutiert wird und deren Bild sich in der Öffentlichkeit ein drittes Mal gewandelt hat. Gestartet als Symbol des Fortschritts und der räumlich gewordenen Aufbruchsstimmung eines Landes, das sich recht erfolglos eine „Stunde Null“ vorlog, wurden Bauten und Ensembles der 1960er, 70er und 80er Jahre recht bald zum Sinnbild der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ – was beispielsweise in Frankfurt und zuletzt in Wetzlar zum Abriss großmaßstäblicher Architekturen führte –, ehe sie derzeit wieder positiv konnotiert in den Fokus der öffentlichen Betrachtung genommen werden.

Wetzlar, Spiegelung im Fenster am Domplatz (Bild: Franzfoto, CC BY-SA 3.0)

Wetzlar, Stadthaus am Dom, 1974–1982; abgerissen 2023 (Bild: Franzfoto, CC BY-SA 3.0)

Schröders Brioni-Anzüge versus Kohls Strickjacken

Die Relevanz von Architekturbüros wie der Planungsgruppe Stieldorf und Pysall, Jensen, Stahrenberg & Partner sowie der Büros von Bruno Lambart, Gehard Weber oder Siegfried Wolske dagegen scheint vergessen. Weggewaschen vom vermeintlichen und 1989 erstmals vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ausgerufenen „Ende der Geschichte“, von der Euphorie der Wende, von der Abkehr der angeblichen Piefigkeit der Bonner Republik, von Gerhard Schröders Brioni-Anzügen, die Helmut Kohls Strickjacken und Helmut Schmidts Elblotsenmütze ebenso überstrahlten wie Roland Kaiser oder Nicole von Eurodance und Hip Hop in den Schatten gestellt wurden. Verblasst im Gerangel der Aufmerksamkeitsökonomie neben dem WM-Sieg einer hypothetisch „auf Jahre unschlagbaren“ Männer-Fußballnationalmannschaft, von der Postmoderne und in ihrem Kielwasser daherkommenden Diskussion um Rekonstruktion und Wiederaufbau. Dabei sind die genannten Büros für einen beachtlichen Teil der tief im kollektiven Gedächtnis der Bonner Republik verankerten Gebäude verantwortlich. Bauten, die häufig bis heute erhalten sind und unsere Städte und Geschichten nach wie vor prägen, mitunter jedoch stark vom Abriss gefährdet sind, was gleich doppelt fahrlässig ist – lohnt sich ihr Erhalt doch auf zwei Ebenen. Dabei scheinen zweierlei Dinge zentrale Rollen zu spielen. Zum einen ist eine heute mitunter radikale Hinwendung zur Bestandspflege unter der Maßgabe der CO2-Reduktion, zum anderen eine Anerkennung der Bedeutung dieser Häuser für die Geschichten und Erinnerungen, die die Menschen in und mit ihren Städten verknüpfen.

Jahrelang moderierte der Journalist Friedrich Nowotny die Sendung „Bericht aus Bonn“ vor einer stilisierten Fensterfront, durch die neben der 1949 von Hans Schwippert zum Bundeshaus umgebauten ehemaligen Pädagogischen Akademie auch die Kreuzbauten und das Bundeskanzleramt zu sehen waren. Beides Bauten, die nach Entwürfen der Planungsgruppe Stieldorf errichtet wurden. Wo heute die Hauptstadtkorrespondet:innen von ARD und ZDF in Berlin vor Green-Screens stehen, die wahlweise Bewegtbilder vom Pariser Platz und dem Brandenburger Tor oder der Spree und dem Band des Bundes ins Bild projizieren, standen die Berichterstattenden früher stets an der Hauptpforte des Bundeskanzleramts an der Bonner Dahlmannstraße. Im Rücken den gleichermaßen blickdurchlässigen wie massiv wirkenden Zaun und den dreigeschossigen Bau des Kanzleramts, vor dem sich auf sattem Grün Henry Moores Skulptur „Two Large Forms“ erhob, die Helmut Schmidt als Kanzler 1979 hatte aufstellen lassen. Nachrichten, die die Innen- oder Außenpolitik betrafen, kamen jahrelang nicht ohne derlei Bilder aus. Das prägt. Und zwar nicht nur die Bonner:innen, in deren Stadt sich das Geschehen vor der Kamera ja abspielte und das betreffende Gebäude bis heute steht, sondern alle, die sich vor den Fernsehgeräten der Republik versammelten. Ein fast allabendliches Ereignis, das Manchen dazu verführte vom „Lagerfeuer der Moderne“ zu sprechen: Der Fernseher als magnetisches Objekt, zu dem sich eine ganze Gesellschaft hingezogen fühlt, räumlich getrennt und durch die Bilder geeint. Gemeinsame Abende, eingeleitet von Nachrichten, in denen Architektur eine mal konkrete, mal abstrahierte Hintergrundfolie war.

Bonn, “Large Two Forms” von Henry Moore vorm ehemaligen Bundeskanzleramt, Planungsgruppe Stieldorf 1973-76 (Bild: Sir James, CC BY-SA 3.0)

Maßstabssprünge als Abrissargument

In fast jeder Stadt stehen Gebäude, die jahrelang einfach dazugehörten, die nicht sonderlich geliebt wurden, wenngleich sie funktionierten, also ihren Zweck erfüllten: Ämter, Schulen, Universitäten, Sparkassen und mitunter eben auch als Sparkassen bezeichnete Repräsentationsbauten wie das Bonner Kanzleramt, über das Manfrad Sack im Zeit-Magazin im Mai 1976 schrieb: „Es ist eins der letzten, mit Verve probierten Beispiele des sogenannten ‚internationalen Stils‘, der die Architektur reduziert auf Material und Proportion: Sie will selbst nichts ausdrücken, sie will nur das Gehäuse sein, das seinen Benutzern (politischen) Ausdruck erlaubt.“ Die nonchalante Zurückhaltung dieser Architekturen, die nicht nach der großen architektonischen Geste suchen, keines der heute allzu oft recht bemüht herbeigeschriebenen Narrative bedienen wollen, sondern ihre Vollendung im Erfüllen des Zwecks finden, für den sie errichtet wurden, und so zum Funktionieren gebracht werden – das klingt bei Sack bereits an –, ist vielen dieser Gebäude zum Schicksal geworden. Die Liebe fiel anderswo hin, zweckdienliches Funktionieren aber wurde als Selbstverständlichkeit hingenommen und mit Austauschbarkeit verwechselt. Dass manche Bauten der Jahre 1965 bis 1980 im Furor der Gegenwarts- und Zukunftsgläubigkeit dabei den am jeweiligen Ort wehenden Geist ignorierten und mit Maßstabssprüngen vorhandene Baustrukturen nur annäherungsweise zeitgenössisch interpretierten oder gar ignorierten, war ihrem Ruf in den jeweiligen Stadtgesellschaften zudem nicht zuträglich. Abrissdebatten waren und sind das Ergebnis. In Frankfurt ersetzt eine neue Altstadt den Neubau des alten technischen Rathauses, in Wetzlar wurde das Stadthaus am Dom jüngst geschliffen um Platz zu machen für die Neubauten der „Domhöfe“, einem „mehrgliedrigen Baukörper, dessen Fassaden sich harmonisch in das historische Stadtbild der Altstadt einfügen“, so die Pressestelle der Stadt.

Frankfurt/Main, Technisches Rathaus, Bartsch/Thürwächter/Weber 1970-74; abgerissen 2009-2011 (Bild: Sebastian Kasten/Melkom, CC BY-SA 3.0)

Die Hintergrundfolie unseres Lebens

Für einen zeitgenössischen und TikTok-kompatiblen Tourismus zahlt sich das offenkundig aus, wie das Beispiel Frankfurt zeigt, doch auch der Erhalt von ästhetisch mitunter unbequemer Bausubstanz kann lohnenswert sein. Zum einen und naheliegend aus Gründen der Nachhaltigkeit. Die Energie, die durch die Herstellung der Baumaterialien und für ihre Fügung zu einem Haus notwendig war, steckt in den Gebäuden und wird als „graue Energie“ bezeichnet. Sie würde beim Abriss freigesetzt – in aller Regel als nicht genutzte Wärme – oder ungenutzt auf Müllhalden gebunden zurückbleiben, dazu kommen die zusätzlich notwendigen Energien für den Neubau. Die im Geist der architektonischen Moderne entwickelten Grundrisse lassen sich jedoch oft gut und einfach umnutzen. Bremsklotz und Problem bleiben die teilweise absurd anmutenden Standards hinsichtlich Schall- und Brandschutz, denen Um- und Weiterbauten gerecht werden müssen. Die Bilanzierung eines Gebäudes und die damit einhergehende Reduktion auf reine Kennzahlen verspricht eine vermeintliche Objektivierung, lässt aber zum einen tatsächlich anfallende Kosten – wie einen global fair berechneten CO2-Preis – außer acht und wird zum anderen der gesellschaftlichen Bedeutung vieler dieser Gebäude nicht gerecht.

Denn bei diesen rein quantitativ geführten Debatten gerät ein Punkt oft außer Acht: In unserer gebauten Umwelt in Stadt und Land ist nicht nur „graue“, sondern auch „soziale Energie“ gespeichert. Die Allermeisten von uns verbinden etwas mit diesen Häusern. Jahre- und jahrzehntelang waren sie Hintergrundfolie unseres Lebens. Auf der Mattscheibe gleichermaßen wie in der echten Welt. Diese Geschichten, Anekdoten und Erinnerungen sind Teil der sozialen Speichermaße Architektur. Räumen wir ästhetisch mitunter unbequeme Häuser all zu unbedacht ab, tilgen wir damit immer auch einen Teil unserer inklusiven Stadtgeschichte als Gemeinschaft und unserer exklusiven Entwicklungsgeschichte als Individuen.

Kaiserslautern, Rathaus, Roland Ostertag 1964–1968 (Bild: E. K., CC BY-SA 3.0)


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Inhalt

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Dirk Meyhöfer über ein Gebäude, das einst die Maßstäbe sprengte – und heute der drohenden Monotonie entgegensteht.

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Ein Freischichtmuseum der Moderne – ein Gang über das ZDF-Sendegelände in Mainz-Lerchenberg.

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