von Matthias Ludwig (22/4)
Viele reagieren überrascht, manche entsetzt, andere begeistert, wenn sie am östlichen Rand der Rostocker Altstadt auf eine große gotische Kirche treffen – mit Fenstern, Loggien und Sonnenkollektoren am Steildach. Kommt man näher, finden sich Türklingeln am Turmportal und auf den zweiten Blick ist der ganze Kirchturm belebt. Dieses Konzept ist nicht neu: Die Aus- und Einbauten an St. Nikolai entstanden schon in den 1970er/80er Jahren. Zuvor lag die im 13. Jahrhundert begonnene, im 15. Jahrhundert erweiterte Backsteinkirche noch in Kriegstrümmern: Im April 1942 wurde der 1312 geweihte Bau bei Luftangriffen schwer beschädigt, der Turm und die dreischiffige Halle brannten aus, die Gewölbe des Schiffs brachen ein. Im Wiederaufbau, als die Bezirksstadt Rostock 1952 ein repräsentativ-sozialistisches Zentrum erhielt, genoss die Wiederherstellung von St. Nikolai keine Priorität. Immerhin blieb ihr das Schicksal der benachbarten mittelalterlichen Jakobikirche erspart, deren Kriegsruine bis 1960 abgetragen wurde. Vielmehr sicherte man St. Nikolai und bedeckte den Turm 1956 mit einem Pyramidendach. Der erhaltenen Chor diente schon ab 1948 wieder als Gottesdienstraum. Zu mehr aber reichten Kräfte und Möglichkeiten der im Realsozialismus stark schrumpfenden Gemeinde nicht.
Rostock, Nikolaikirche, 1994 (Bild: Sludge G, CC BY SA 2.0, via flickr)
Ein neues Konzept
Als man 1974 die Gemeinden von St. Petri und St. Nikolai zusammenlegte, wurde letztere Kirche als Predigtstätte aufgegeben. Daher diskutierte man für einen der ältesten erhaltenen Hallenbauten im Ostseeraum: Abreißen oder denkmalgerechte restaurieren? Beides lehnte die Landeskirche ab, auch aus Kostengründen. Dann eröffnete ein seinerzeit aufgelegtes Kirchenbauprogramm neue finanzielle Möglichkeiten für die Nikolaikirche. Sie sollte in veränderter Form wiederaufgebaut und fortan übergemeindlich genutzt werden. Zudem wollte man Platz für kirchliche Verwaltung und Dienste sowie für Mitarbeiter:innen-Wohnungen schaffen.
Nach den Plänen von Gisbert Wolf mit Siegbert Hilscher und Ingrid Hübner (VEB Baureparaturen „Warnow“) begann ab 1976 die Wiederherstellung von Turm und Dach. Die Mittel dazu kamen aus der damaligen Bundesrepublik: Bis Mitte der 1970er Jahre liefen hier „Sonderbauprogramme“ an, so förderten die westdeutschen Kirchen u. a. Instandsetzungen, Rekonstruktionen und Neubauten in der DDR. Der ab dem 15. Jahrhundert entstandene Turm von St. Nikolai erhielt nun – von außen kaum wahrnehmbar – Aus- und Einbauten für kirchliche Dienst- und Verwaltungsstellen. Auf insgesamt zehn Etagen entstanden Amts-, Büro- und Sitzungszimmer. Ein Treppenhaus mit Aufzug erschloss zugleich einen Wohnkomplex, der im neu aufgebauten Dachstuhl entstand. Über der Kirchenhalle lagerte eine Balkenrostdecke auf den Säulen des Schiffs. Dafür waren die Rundpfeiler des einstigen Gewölbes allerdings nicht mehr tragfähig genug. In einem aufwändigen Verfahren wurden sie daher Schicht um Schicht abgenommen, durch Stahlbetonstützen ersetzt und diese später mit den abgetragenen Ziegeln ummantelt. Zuletzt wurden im Kirchenschiff neue Gewölbe untergespannt.
Rostock, Nikolaikirche (Bild: Nikolaikirche Rostock Kirchliches Zentrum)
Ein grandioser Ausblick
Im Dachraum entstanden auf drei Ebenen insgesamt 21 Wohnungen für kirchliche Mitarbeiter:innen. Sie öffnen sich in den unteren beiden Etagen mit tief eingezogenen Loggien, in der oberen mit flachliegenden Dachfenstern nach außen. Bevorzugt richtete man sich nach Süden. Nach Norden, zur verschatteten Seite, weisen hingegen nur Gästezimmer und vorübergehend von Studierenden genutzte Wohnungen. Die Erschließung übernehmen, ähnlich wie bei Mittelganghäusern, künstlich belichtete Flure. 1984 fertiggestellt, stehen in St. Nikolai heute 13 Wohnungen und fünf Gästezimmer zur Verfügung – mit einem eindrücklichen Ausblick auf die Hansestadt.
Länger ungenutzt blieb das im Krieg schwer beschädigte Kirchenschiff. Erst nach der „Wende“ gelang die Wiederherstellung und Neubelebung. Anstelle der weitenteils vernichteten Einrichtung wurde der Raum nun – je nach Veranstaltungsform – variabel gehalten. Als Mehrzwecksaal für überregionale kirchliche Veranstaltungen geplant, wird das Kirchenschiff seit 1994 besonders für Konzerte, aber auch für Theateraufführungen, Ausstellungen, Podien und Märkte, gelegentlich Gottesdienste genutzt. So versteht sich St. Nikolai heute als übergemeindliches, geistliches und kulturelles Zentrum der Stadt. Der nunmehr zur Evangelisch-Lutherischen Innenstadtgemeinde Rostock zählende Bau erfüllt damit gleich vier Funktionen: Gottesdienst- und Veranstaltungsstätte, Büro- und Wohnraum.
Hamburg-Barmbek, Rest der Heiliggeistkirche im Turmhaus (Bild: Sebastian Koppehel, CC BY SA 4.0, 2017)
Wohnen zwischen Kirchenmauern
Ähnliche Neunutzung(en) von Kirchen gibt es in Deutschland auch anderenorts. Der Ausbau eines kirchliches Dachgeschosses zu Wohnungen ist, zumindest in diesem Umfang, bisher aber wohl einmalig geblieben. Immer wieder werden solche Projekte diskutiert und einige auch realisiert – im bestehenden Kirchenschiff, so bei der Lutherkirche in Berlin-Spandau (1996), bei der Friedenskirche in Mönchengladbach-Rheydt-Geneicken (2001) oder bei der Herz-Jesu-Kirche in Mönchengladbach-Hardterbroich-Pesch (2011). Gegenwärtig wird diese Lösung häufiger gewählt – etwa an der Lukaskirche in Essen-Holsterhausen (2013), in St. Elisabeth in Freiburg-Zähringen (2013/Wohnausbau Turm 2019), in der Markuskirche in Gelsenkirchen-Hassel (2017) oder in Christi Himmelfahrt in Trier-Ehrang (2021).
Bei den Ausgangsbauten handelt es sich aktuell mehr und mehr um vergleichsweise junge Nachkriegskirchen. Insgesamt sind Wohnnutzungen noch eher bei kleineren Objekten – etwa als Eigenheim – zu beobachten. In den Niederlanden, wo man in den letzten 50 Jahren viele Kirchen aufgegeben und als Immobilien verwertet hat, existieren längst zahlreiche kleinere wie größere Wohnbauprojekte. Hierzulande ist die Rentierlichkeit besonders bei Großprojekten häufig umstritten: Der bauliche wie technische Aufwand ist meist immens, der Nutzwert der Wohnungen häufig eingeschränkt. Überdies sind die ästhetischen Ergebnisse, nicht nur unter denkmalpflegerischen Aspekten, oft zweifelhaft, denn der einstige Großraum ist am Ende allenfalls noch eingeschränkt erfahrbar. In Rostock hatte man – angesichts des notwendig völligen Neuaufbaus des Dachstuhls – mehr Freiheiten, wenngleich auch dort der technische Aufwand immens war. Sieht man von wenigen Projekten ab wie dem Einbau kirchlicher Dienst- und Verwaltungseinheiten in den Dachraum der multifunktionalisierten Kirche Zum Heiligen Kreuz in Berlin-Kreuzberg (1995) – ein Umbau, der im Gefolge der Hausbesetzungen der 1980er Jahre erwuchs –, scheint die Rostocker Lösung mindestens in dieser Größenordnung in Deutschland einzigartig.
Rostock, Nikolaikirche, 1987 (Foto/Titlemotiv: Jürgen Sindermann, Bild: Bundesarchiv Bild 183-1987-1028-326, CC BY SA 3.0)
Ein Zukunftsmodell?
Angesichts der massiv zurückgehenden Mitgliederzahlen der beiden großen Konfessionen werden in Deutschland immer mehr Kirchengebäuden geschlossen. Das Ruhrbistum etwa geht davon aus, langfristig gut zwei Dritteln des Bestands aufgeben zu müssen – die Bistümer Mainz und Hildesheim sprechen von bis zu 50 Prozent. Hohe Grundstückspreise verlocken vor allem in den Städten zum Abriss. Eine Neubebauung könnte zudem dazu beitragen, die Zersiedelung und Bodenversiegelung an anderer Stelle einzudämmen. Dem steht der Einspruch der Denkmalpflege ebenso entgegen wie die Erkenntnis, in Zeiten des drängenden Klimaschutzes auf Graue Energie zu setzen, also bestehende Bauten weiterzuentwickeln. Daher scheint die (Teil-)Umnutzung von Kirchen gerade auch zu Wohnzwecken aktuell lohnend. Dies setzt freilich voraus, dass solch aufwändige Projekte in Zukunft überhaupt noch finanzierbar, baulich umsetzbar und dauerhaft tragfähig sind. Doch für manche Kirchen könnte dieser Ansatz in größter Not – ähnlich wie einst bei St. Nikolai in Rostock – Rettung und Perspektive sein. St. Lucius in Essen-Werden etwa, wohl um 995 begonnen, wurde nach der Säkularisation 1803 profaniert und als Kornlager, später für Wohnzwecke genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zur Kirche rückgebaut, blieb so ein bedeutendes historisches Zeugnis erhalten.
Anzustreben wäre allerdings ein behutsamer Umgang mit dem Bestand. In Rostock blieb dieser seinerzeit wesentlich gewahrt. Darüber hinaus ergänzte man das vielfältig genutzte Kirchenschiff um Arbeits-, Büro-, Verwaltungs- und Wohnräume. Diese Mischung hält den nach wie vor unter kirchlicher Ägide stehenden Bau, aber auch sein Umfeld bis heute im Gespräch, zieht vielfältiges Publikum an und belebt das umliegende Stadtquartier. Wenngleich unter anderen Umständen begonnen, erfüllt sich so die Hoffnung der einst Planenden: St. Nikolai erhielt durch die Öffnung zur Gesellschaft eine Zukunft. Bei der Heiligengeistkirche in Hamburg-Barmbek (1903) hingegen wurde der neugotischen Bau – nach einer Gemeindefusion und mit einem hohen Sanierungsbedarf – im Jahr 2008 abgerissen. An seiner Stelle entstand die zwölfgeschossige Eigentumswohnanlage „Barmbeker Turmhaus“. Allein das Ostschiff der Kirche blieb erhalten und wurde fragmentarisch in den Neubau einbezogen. Nun erinnert es auf eher irritierende Weise an das einstige dörfliche Zentrum des Stadtteils. Kommenden Projekten wäre mehr Nachhaltigkeit, Qualität, Fantasie und Kreativität zu wünschen. Das „Kirchliche Zentrum Nikolaikirche“ in Rostock kann dabei durchaus noch heute Wege weisen.
Rostock, Nikolaikirche, Notsicherung und liturgische Nutzung des Chorraums, 1951 (Bild: Bundesarchiv, Bild 83-12516-0004, CC BY SA 3.0)
Rostock, Nikolaikirche, Umbau zu Wohnzwecken, 1980 (Bild: Schiwago, CC BY SA 3.0)
Rostock, Nikolaikirche, 1987 (Foto: Jürgen Sindermann, Bild: Bundesarchiv Bild 183-1987-1028-327, CC BY SA 3.0)
Rostock, Nikolaikirche (Bild: Nikolaikirche Rostock Kirchliches Zentrum)
Rostock, Nikolaikirche (Bild: Nikolaikirche Rostock Kirchliches Zentrum)
Literatur
Frank, Robert, St. Nikolai in Rostock, in: Bauwelt 80, 1989, 7, S. 244–245.
Georg Dehio. Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Die Bezirke Neubrandenburg, Rostock, Schwerin, überarbeitet von der Abteilung Forschung des Instituts für Denkmalpflege, Berlin (Ost) 1980, 2. Auflage.
Schwatlo, Winfried u. a., Zukunft Kirchenimmobilien, hg. von CoRE Campus of Real Estate an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen e.V., Geislingen/München o. J. [2018].
Schwebel, Horst/Ludwig, Matthias (Hg.). Kirchen in der Stadt (Schriften des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg/Lahn – A.1 + A.2), Marburg/Lahn 1994/96.
Volp, Rainer u. a. (Bearb.), Alte und neue Kirchen in der DDR (kunst und kirche 43, 1980, 3), Gütersloh/Linz/Donau 1980.
Wohnen im Hause Gottes (dpa), in: Die Welt, 4. Juli 2005.
Titelmotiv: Rostock, Nikolaikirche, 1987 (Foto: Jürgen Sindermann, Bild: Bundesarchiv Bild 183-1987-1028-326, CC BY SA 3.0))
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Inhalt
LEITARTIKEL: Leider noch Exoten
Christian Holl über ein altes Problem im modernen Wohnungsmarkt.
FACHBEITRAG: Schwarzwohnen in Halle
Kevin Hanschke über die Nischen im System.
FACHBEITRAG: Die ufaFabrik Berlin
Sigrid Niemer über eines der ersten deutschen Projekte für gemeinsames Arbeiten und Wohnen in einer Industriebrache.
FACHBEITRAG: Wohnen in der Nikolaikirche Rostock
Matthias Ludwig über den Umbau einer mittelalterlichen Kirche zu DDR-Zeiten.
PORTRÄT: Das ‚Gastarbeiter-Wohnheim‘ Dingolfing
Fabian Schmerbeck über eine Idee von Gemeinschaft, die nie wirklich eingelöst wurde.
INTERVIEW: Gemeinschaft auf (Frei-)Zeit
Daniela Spiegel im Gespräch über die Urlaubskultur in der DDR.
FOTOSTRECKE: „Ein Garten für den ganzen Tag“
Elissa Rosenberg über den Kibbuz-Garten, der Mensch und Landschaft zu einer neuen Gemeinschaft formen sollte.