von Christian Holl (22/4)

„Das soziale Zusammenleben der Menschen müsste neu ermöglicht werden. Die in ihren Sozialbeziehungen ausgedünnte Kleinfamilie stellt eine ungeheure Arbeitsintensivierung dar. Vieles, was gemeinsam über mehrere Familien hinweg leicht(er) gelöst werden kann, wird, wenn man ihm allein gegenübersteht, zur Dauerüberforderung. […] Die berufliche Mobilität und der Trend zum Single-Dasein sind bereits Beton geworden.“ Es ist nun schon traurige 36 Jahre her, seit der Soziologe Ulrich Beck diese Diagnose über den deutschen Wohnungsmarkt gefällt hat. Sie ist nicht veraltet. So konstatiert der Stadtplaner Ernst Hubeli noch 2020 in seiner Philippika zur Wohnungsfrage: „Gälte es, das historisch Spezifische im beginnenden 21. Jahrhundert zu bezeichnen, dann wäre es die Diskrepanz zwischen heterogenen Lebensformen und homogenen Wohnformen.“

Allen Marketingstrategien zum Trotz: Auf dem Wohnungsmarkt herrscht eher Tristesse (Bild: Christian Holl)

Wider den Markt

Konzepte, die das Teilen von Flächen mit einem Gewinn an Begegnung und Austausch verknüpfen, sind noch immer weit davon entfernt, Normalität zu sein. Wenn man sich fragt, warum dem schon so bedrückend lange erkannte Bedarf an einem anderen Wohnen irgendwo am Rand des alltäglichen Geschäfts mit Konzepten und Pilotprojekten begegnet wird, als gelte es immer noch, etwas Neues zu erproben und erste Erfahrungen zu sammeln, dann kommt man nicht drumherum, die noch grundlegenderen Versäumnisse auf dem Wohnungsmarkt in den Blick zu nehmen.

Es ist nicht nur so, dass die Häuser sich beständig dagegen sperren, den schon lange nicht mehr neuen Lebensmodellen, den fluiden Biografien, den variantenreichen Familienformen gerecht zu werden. 2021 betrug der Bestand in Deutschland 43,1 Millionen Wohnungen, knapp 8 Millionen mehr als 1995, wobei die Bevölkerung kaum, nämlich um 1,8 Millionen gestiegen ist. Und trotzdem wird ein Neubaubedarf von 400.000 Wohnungen jährlich verkündet. Man kann Hubeli kaum widersprechen: Er konstatiert, dass es der Wohnungsmarkt in den letzten 30 Jahren als unfähig erwiesen habe, überhaupt die Grundversorgung zu garantieren. Wo aber nicht einmal diese gewährleistet ist, ist es schwerer, neue Routinen zu etablieren. Vor allem auch, weil es denen, die für eine andere Wohnbaupraxis sorgen könnten, schwer gemacht wird. Ziemlich schwer.

Wien, Sargfabrik (Bild: Haeferl, CC BY SA 3.0)

Eines der Projekte, das viel zu lange Ausnahme und Vorzeigebeispiel geblieben ist: die Wiener Sargfabrik aus den 1990er Jahren (Bild: Haeferl, CC BY SA 3.0)

Die soziale Mischung

Nimmt man die Vorteile der gemeinschaftlichen Wohnprojekte, die als Vorzeigebeispiele teilweise seit Jahren die Runde machen (das Spreefeld in Berlin, die Kalkbreite in Zürich, WagnisArt und San Riemo in München, die Sargfabrik, das Sonnwendviertel in Wien, das Alte Weberei Carré in Tübingen), dann ist offensichtlich, wie sehr sie den Logiken eines rendite- und konsumorientierten Markt widersprechen. Sie fördern soziale Mischung, enthalten in der Regel Konzepte, die eine Finanzierung so organisieren, damit auch weniger gut gestellte Menschen sich dort langfristig eine Wohnung leisten könnten. Oft umfassen sie auch Angebote für Geflüchtete, für Menschen mit Handicap oder andere Gruppen, die sonst schwer Wohnraum finden. Sie bieten eine Alternative zum Einfamilienhaus mit gesicherten Freiräumen, großzügigen Raumangeboten, reagieren auf demografische Entwicklungen und helfen, Vereinsamung im Alter zu verhindern. Sie sind emanzipatorisch in dem Sinne, dass sie Freiräume zur eigenen Entfaltung durch das Teilen von Aufgaben entwickeln. Viele organisieren sich ganzheitlich über das Wohnen hinaus – etwa mit Carsharing und Angeboten für eine andere Mobilität mit Lastenrädern, die man sich leihen kann.

Mit mehreren Preisen ausgezeichnet: das Projekt WagnisArt der Genossenschaft Wagnis, die zuvor bereits im Ackermannbogen gebaut hatte (BIld: Christian Holl)

Mit mehreren Preisen ausgezeichnet: das Münchener Projekt WagnisArt der Genossenschaft Wagnis, die zuvor bereits im Ackermannbogen gebaut hatte (Bild: Christian Holl)

Mit steigenden Mieten

Demgegenüber steht ein Markt, der seit 1990 durch die Abschaffung der Gemeinnützigkeit für Wohnungsbauunternehmen an Dynamik gewonnen hat, eine Dynamik, die seit 2008 noch einmal gesteigert wurde. Seit 2008, seit der Weltfinanzkrise, haben internationale Anleger:innen auf der Suche nach sicheren Kapitalanlagen verstärkt in deutsche Böden und Immobilien investiert. 2018 stammte jeder zweite Euro bei größeren Immobilientransaktionen aus dem Ausland. Zudem zielen viele Anleger:innen auf kurzfristige Spekulationsgewinne und dynamisieren damit die Preisentwicklung. Pensionskassen und Versicherer waren 2017 mit 49 Prozent die stärkste Anleger:innengruppe von Immobilienfonds – und damit wir alle, als Versicherte von privaten Rentenfonds.

Dynamisiert wurde dieser Prozess auch dadurch, dass Spareinlagen in Lebensversicherungen oder Immobilienfonds umgeschichtet wurden. Wir bezahlen unsere Renten, so könnte man zugespitzt formulieren, mit steigenden Mieten. Und dieser spekulative Markt wird gezielt angeheizt. Rasch aufeinander folgenden Verkäufe erhöhen die Bodenwerte, die Bodenwerte entkoppeln sich von den ohnehin stark steigenden Mieten. Von den steigenden Preisen profitieren sehr wenige, während die Kosten, die dafür sorgen, dass Boden wertvoll wird – also die Investition der öffentlichen Hand – über Steuern gedeckt werden. Es geht letztlich darum, dass Wohnen eine Mangelware bleibt, damit das Geschäft weiterlaufen kann. Solange aber Wohnen eine Assetklasse ist, und Immobilien- und Bodenmärkte als Anleger:innenmärkte der internationalen Finanzmarkt dienen, ist es kaum vorstellbar, dass diejenigen, denen innovatives Wohnen am Herzen liegt, zum Zuge kommen. Ohne dass Flächen dem Markt entzogen werden, ohne eine Politik, die nicht nur in Nischen auf Gemeinwohlorientierung zielt, wird sich wenig ändern.

Alt-Erlaa (Bild: Christian Holl)

Die Bewohner:innenschaft ist mit der Wiener Anlage Alt-Erlaa aus den 1970er/80er Jahren hochzufrieden – die Außenwahrnehmung ist eine andere, trotz vieler Gemeinschaftsräume und Schwimmbäder (Bild: Christian Holl)

Exotische Blumen

Bis dahin bleiben alle Modelle für gemeinschaftliches Wohnen exotische Blumen. Das ausbleibende Wirken dieser Modelle in die Breite geht aber noch über einen auf Gewinne getrimmten Markt hinaus, einen Markt, aus dem sich die öffentliche Hand weit zurückgezogen hatte und auf dem sie nur mühevoll und mit hohen Kosten wieder Handlungsoptionen zurückerobert. So wird auch das Misstrauen gegenüber allem, was mit Kollektiv und Gemeinschaft einhergeht, von einer neoliberalen Doktrin am Leben gehalten, von der Etablierung dessen, was der Journalist Paul Mason das „Neoliberale Selbst“ nennt. Es ist das Individuum, das dem Wettbewerb ausgesetzt wird. In der Schule, am Arbeitsplatz, beim Konsum. Dieses neoliberale Selbst hat zwei Seiten. Der Konsum dient ihm einerseits der Selbstverwirklichung. Und dieses Selbst ist andererseits ein Mensch, der sich zum/zur Unternehmer:in seiner selbst verwandeln musste.

In den letzten Jahrzehnten wurden nicht nur Wohnungsmärkte, sondern auch Risiken privatisiert: Armutsrisiken, insbesondere das Altersarmutsrisiko, das Risiko krank und arbeitsunfähig zu werden. Wir bekamen die Ich-AG, die Riesterrente und die Privatversicherung. Kliniken wurden geschlossen, Zahnbehandlungen und Brillen Privatangelegenheiten. Leistungen für die Gemeinschaft wie Kindererziehung oder Ehrenamt schlagen sich nicht in Sicherheit vor Altersarmut nieder. Der Neoliberalismus hat, so der Befund von Mason, das Individuum neu formatiert. Es könnte erklären, warum die Individualisierung der Lebensstile und von Risiken nicht durch eine Form des Zusammenlebens kompensiert werden, und Modelle wie die von Alt-Erlaa in Wien in der Sicht von außen seit Jahrzehnten kritisch gesehen werden, obwohl die Wohnanlage bei den Bewohner:innen äußerst beliebt ist und zahlreiche Gemeinschaftsräume einschließlich Schwimmbädern auf dem Dach bietet. Weil sie, so ist zu vermuten, für eine Idee von Sozialstaatlichkeit steht, die uns gründlich ausgetrieben wurde.

Die Genossenschaft Kraftwerk hat das Clusterwohnen in mehreren Projekten soweit entwickelt, dass es eigentlich auch bei uns in die Breite wirken könnte. Eigentlich (Bild: ©Johannes Marburg, Genf)

Die Genossenschaft Kraftwerk hat das Clusterwohnen in mehreren Projekten so weit entwickelt, dass es eigentlich auch bei uns in die Breite wirken könnte. Eigentlich (Bild: ©Johannes Marburg, Genf)

Produkt oder Prozess?

Und dann ist da noch ein Punkt, der Architekt:innen wie Investierende betrifft: Investor:innen und Architekt:innen denken oft Architektur als Produkt und Objekt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Für die einen ist es eine Ware, die mit bestimmten und präzisen Qualitäten ausgestattet sein muss, um einen Marktwert zu haben, für die anderen ist es ein Werk, das auf dem Höhepunkt seiner Qualitäten ist, wenn es nicht verändert wird. Solange Architektur als Produkt und Objekt verstehen wird, werden wir uns weiterhin schwer damit tun, mit dem Bestand umzugehen, Architektur als Prozess zu verstehen, der sich nicht irgendwann in einem vermeintlich endgültigen Projekt erfüllt hat.

Auch im Wohnen, auch in den innovativen Projekten, konzentrieren sich die Bemühungen, Abhilfe in einer als defizitär empfundenen Situation zu schaffen, auf den Neubau. Das Potenzial des Bestands zu nutzen, muss viel mehr als bislang intensiv als eine integrale Aufgabe verstanden werden, die Einfamilienhausgebiet und Großwohnanlagen gleichermaßen berücksichtigt. Es erfordert ein Umdenken angesichts der bestehenden Modernisierungs- und Förderungspraxis, das Begreifen dieser Bauaufgabe als planerische Arbeit, das heißt nicht als Reduktion auf technische oder wirtschaftliche Aspekte beziehungsweise ihrer vom Sozialen entkoppelten, technokratischen Umsetzung. Es müsste eine integrale Praxis sein, die auch eine Managementfrage ist. Und nicht oder nicht nur eine des Bauens. Wie Wohnungen und Häuser getauscht werden können, ohne dass man es als Abstieg empfindet beispielsweise. Darüber nachzudenken hieße, die Modelle des Gemeinsamen nicht nur dort zu verwirklichen, wo das besonders aufgeklärte Publikum dafür zu finden ist. Es wäre schön, wenn wir es uns leisten könnten, schon jetzt darüber nachzudenken.

München, Ackermannbogen (Bild: PD, via pixabay)

Titelmotiv: Selbst in ambitionierten Projekten ist das gemeinschaftliche Wohnen die Ausnahme – im Bild der Ackermannbogen in München (Bild: PD, via pixabay)

Literatur

Beck, Ulrich, Risikogesellschaft, Frankfurt am Main 1986 (Zitat in der Einleitung dieses Beitrags: S. 202).

Hubeli, Ernst, Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert, Zürich 2020 (Zitat in der Einleitung dieses Beitrags: S. 37–38).

Mason, Paul, Klare, lichte Zukunft. Berlin 2019.


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Inhalt

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