von Fabian Schmerbeck (22/4)

Vorreiter in Sachen moderner und modernistischer Architektur war der ländliche Raum wahrlich nur selten, Kraft und Willen zur planerischen Innovation vermutet man stattdessen eher in den Städten. Doch in Zeiten des Umbruchs entstehen solche Neuheiten dann bisweilen auch jenseits der großen Zentren. Bestes Beispiel dafür war eine 1974 fertiggestellte Wohnheimanlage aus dem Büro Steidle + Partner in Dingolfing. Geplant wurde sie als Unterkunft für Arbeiter:innen – und insbesondere für sogenannte ‘Gastarbeiter’, die mit der damals in Niederbayern einsetzenden Spätestindustrialiserung plötzlich am Fließband im örtlichen BMW-Werk benötigt wurden.

Dingolfing, 'Gastarbeiter-Wohnheim' (Bild: steidle architekten)

Dingolfing, ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ (Bild: steidle architekten)

Die Gemeinschaft

Die planerische Aufgabe in Dingolfing war sehr klar: ein möglichst einfaches Wohnheim, in dem sich viele Menschen unterbringen lassen, oder besser, in dem viele Menschen auf engem Raum zusammenleben können. Außerdem musste das Gebäude sowohl erweiterbar als auch flexibel umnutzbar sein. Dabei sollte es nicht in den vorhandenen Wohngebieten, sondern in Werksnähe liegen. Die Arbeiter (und später auch Arbeiterinnen) wurden ja schließlich, frei nach dem Schriftsteller Max Frisch, als Arbeiter:innen bestellt – dass stattdessen Menschen kamen, merkte man erst später. Dieses Dilemma schlug sich auch in den Details der Dingolfinger Architektur nieder. Zwar hatte man sich auf die Fahnen geschrieben, wie es die Zeitschrift “Baumeister” 1974 festhielt, „die gesellschaftliche Isolation der Gastarbeiter zu verringern“. Doch wirklich eingelöst wurde dieser Anspruch nicht.

Um im Haus selbst eine enge Gemeinschaft auszubilden, kam den Erschließungsbereichen eine große Bedeutung zu: Offene Laubengänge von jeweils zwei Gebäuden wurden einander zugeordnet. Sie bildeten Innenhöfe, wurden durch Stege, Treppen und Plattformen verbunden und bildeten damit einen Ort der Kommunikation. Zu den Laubengängen gehörten Koch- und Essbereiche für jeweils acht Menschen, die in jeweils vier, nach außen orientierten Zweibettzimmern schliefen und wohnten. So entstanden verschiedene Intensitäten von Gemeinschaft – vom Zweibettzimmer über die Gemeinschaftsküche einer ‘Wohneinheit’ und die Gemeinschaft eines einzelnen Laubengangs (von bis zu 28 Menschen) bis hin zur Hausgemeinschaft.

Dingolfing, 'Gastarbeiter-Wohnheim' (Bild: steidle architekten)

Dingolfing, ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ (Bilder: steidle architekten)

Die “Wohnstraße”

Möglichst das ganze Leben sollte in den beiden Laubengängen stattfinden. Dafür bündelte man hier alle Angebote: Läden, Küche und Waschküche ebenso wie Räume für Bildung, Sport und Spielautomaten. Es scheint, als wäre es nicht vorgesehen gewesen, den Komplex auf dem „schwierig zu bewohnenden Werksgelände“ zu verlassen. 1985 beschrieb der Architekt Otto Steidle im Gespräch mit Ulrich Conrads, wie eng die Gemeinschaft der bis zu 540 gleichzeitig dort lebenden Menschen ausfiel: „Samstag früh werden Lämmer geschlachtet, es wird ein Markt abgehalten usw. Sie haben sich zu einer engen sozialen Gruppe formiert.“

Diese Hausgemeinschaft sollte vor allem im ersten Obergeschoss entstehen: Hier wurden die beiden Laubengänge auf ganzer Länge verbunden. Auf diese Weise entstand die große begrünte “Wohnstraße”, die in Betonringen mit Gehölzen bepflanzt wurde. Zusätzlich standen Sitzgruppen, Sportgeräte und raumkapselartige Funktionsräumen für eine breitere, über die ‘Gastarbeiter’ hinausweisende Öffentlichkeit zur Verfügung: “Diese […] ‘Wohnstraße’ kann, richtig genutzt, zum Ort der Begegnung werden”, so die im “Baumeister” 1974 geäußerte Hoffnung. Noch mehr, als die ‘Gastarbeiter’ in die Stadt hinausgehen zu lassen, sollten die Menschen zu den Arbeiter:innen hereingeholt werden. Ein ungewöhnlicher Ansatz, dessen Gelingen in Zweifel gezogen werden darf. Nicht zuletzt auch, weil es bei den ersten beiden Bauten blieb. Die ursprünglich angedachte Werksiedlung aus vielen solcher Module wurde nie umgesetzt.

Dingolfing, 'Gastarbeiter-Wohnheim' (Bild: steidle architekten)

Dingolfing, ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ (Bilder: steidle architekten)

Das Ende

Da das Konzept nur fragmentarisch, noch dazu am Rand des Werksgeländes und direkt neben einer Einfamilienhaussiedlung umgesetzt wurde, blieb die bis ins Detail durchgestaltete, farbig herausgehobene Anlage ein städtebaulicher Fremdkörper. Für die Geschichte einer ganzen Region und der dortigen Zuwanderung war es über Jahre hinweg der einzig relevante Ankunftsort – und bildete damit eigentlich ein wichtiges Erbe. Trotzdem wurde der Komplex 2005 abgerissen – zu einem Zeitpunkt, als der Wert ähnlicher strukturalistischer Steidle-Bauten bereits erkannt worden war.

Dingolfing, 'Gastarbeiter-Wohnheim' (Bild: steidle architekten)

Dingolfing, ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ (Bild: steidle architekten)

Dingolfing, 'Gastarbeiter-Wohnheim' (Bild: steidle architekten)

Dingolfing, ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ (Bild: steidle architekten)

Titelmotiv: Dingolfing, ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ (Bild: steidle architekten)

Literatur

Conrads, Ulrich/Sack, Manfred, Otto Steidle (Reissbrett 3), Braunschweig/Wiesbaden 1985.

Baumeister 1974, 3.

Mit herzlichem Dank für die Auskünfte des Büros steidle architekten.


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