von Sigrid Niemer (22/4)
Wo einst Filme auf Zelluloid gebannt wurden, leben und arbeiten heute gemeinsam kreative Stadtmenschen: 1921 hatte die Afifa (später UFA) in Berlin-Tempelhof ein Ensemble aus einem Kinosaal, kleinen Studios, einer Negativ-Entwicklung, Büros und einem feuersicheren Tresorgebäude für Filmmaterial errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Siegeszug des Fernsehens, ließ sich die ursprüngliche Nutzung nicht auf Dauer halten. In der Folge wurde das Kopierwerk 1964 geschlossen und verkauft. Vorübergehend zogen kleine Film- und Werbefirmen ein, es wurden Probe- und Lagerräume eingerichtet. Mal sollten hier neue Wohnungen entstehen, mal eine Fuhrparkfläche für die Bundespost, schließlich verwahrloste die Anlage. Am 9. Juni 1979 startete die spätere Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit ihrer „friedlichen Wiederinbetriebnahme“ des Geländes – mit Erfolg. Damit gilt die ufaFabrik heute als eines der frühesten deutschen Beispiele für die Umgestaltung einer Industriebrache in ein Zentrum für Kultur, Nachhaltigkeit und soziale Gemeinschaft.
Berlin, ufaFabrik (Bild: ufaFabrik Berlin)
Nach dem Mietvertrag
Nach intensiven Verhandlungen konnte im November 1979 ein Mietvertrag mit dem Land Berlin geschlossen werden. Langsam richtete sich die 45-köpfige Lebensgemeinschaft in der ehemaligen Industrieanlage ein. Mit der Unterstützung von Freund:innen machte sie die maroden Gebäude nacheinander nutzbar. Die durchgeführte Restaurierung orientierte sich optisch an den originalen Gestaltung, dabei wurde ausgiebig mit verschiedenen Materialien experimentiert. So blieben die typischen Architekturen und Freiflächen meist erhalten, die Innenräume hingegen wurden den neuen Funktionen angepasst. Zunächst befreite man das Gelände von Schutt und Müll. Erste Büros wurden zum Wohnen hergerichtet, die ehemalige Kantine und das Filmtheater dienten nun als Veranstaltungsräume. Dabei wurde in wechselnden Teams gearbeitet, in der Gemeinschaftsküche gekocht und in den größeren Räumen geprobt und aufgeführt. Wo immer möglich, fiel die Sanierung nachhaltig aus – so übernahm man etwa Heizkörper aus einem Abrisshaus und reparierte sie.
Viele Berliner Künstler:innen spendete die Einnahmen ihrer Veranstaltungen in der ufaFabrik, um das Projekt zu unterstützen. Nach außen wurde das Projekt sehr schnell bekannt. Intern wurde diskutiert und ausgehandelt, welche Aktivitäten in Zukunft stattfinden sollten. Wohnen und Arbeiten, Ökologie und Kultur sollten ganzheitlich und sinnstiftende gelebt werden. Dieses Konzept war 1979 radikal – vor allem das gemeinsame Wohnen einer so großen Gruppe, die Auftritte des hauseigenen ufaFabrik Circus und der ökologische Handlungsansatz lösten in der Öffentlichkeit Skepsis, aber auch Begeisterung aus.
Berlin, die Gemeinschaft der ufaFabrik in den Anfangsjahren (Bild: ufaFabrik Berlin, 1980)
Ganz ohne “Staatsknete”?
Die größte Herausforderung des Projekts lag in den Finanzen, denn keine:r der Beteiligten verfügt über ausreichend Geld für die dringend nötigen Investitionen. Auf „Staatsknete“ wurde bewusst verzichtet, doch alle Ausgaben wie Miete, Strom usw. mussten selbst getragen werden, um den Vertrag mit dem Land Berlin zu erfüllen. Die Gruppe entschied sich für die einzige erfolgversprechende Möglichkeit: Sie verzichtete auf privates Einkommen und bündelte sämtliche finanziellen Ressourcen. Niemand erhielt Lohn für seine Arbeit – insofern war egal, ob man kochte, renovierte oder Öffentlichkeitsarbeit betrieb. Sämtliche Kosten für Miete, Essen, Autos, Material und private Ausgaben wurden über die Gemeinschaftskasse abgewickelt. So konnte die Aufbauarbeit „step by step“ beginnen. Ohne diese erheblichen freiwilligen Leistungen der Anfangsjahre gäbe es heute keine ufaFabrik.
Inzwischen hält der gemeinnützige Verein ufaFabrik Berlin e. V. den Pachtvertrag mit der Stadt Berlin und bewirtschaftet das Grundstück. Dazu gehören ein Büro für ökologische Projekte und eine Bildungsstätte. Auf 18.566 Quadratmetern gliedert sich das große Gelände in Straßen, Grünflächen und sieben Gebäude mit unterschiedlichen Funktionen: mehrere Theaterbühnen, ein Gästehaus, das Café-Restaurant, die Kindercircusschule, eine private freie Grundschule, eine Bio-Bäckerei mit angeschlossenem Laden, Büros, Werkstätten, das Nachbarschaftszentrum NUSZ mit dem Kinderbauernhof Kreativbüros, Proberäume und Wohnraum für ca. 45 Menschen, die meist in der ufaFabrik arbeiten. Der Kulturbetrieb IKC e. V. verknüpft internationale und lokale Kunst und Kulturen. Im historischen Kinosaal, in zwei weiteren Sälen und auf der Freilichtbühne veranstaltet man Theater, Musik, Kabarett, Varieté, Tanz, Weltmusik, Kindercircus, Festivals und Koproduktionen mit europäischen Partner:innen. Regelmäßig und in unterschiedlichen Kooperationen finden Workshops, Seminare, Festivals und Konferenzen zu künstlerischen, gesellschaftlichen und nachhaltigen Themen statt. 2004 wurde die ufaFabrik Berlin von der UN-Habitat in ihre Datenbank aufgenommen – unter dem Titel „Best Practice to Improve the Living Environment“.
Die schrittweise Sanierung und Erweiterung von Technik und Gebäuden geht immer noch voran. Einige Häuser sind über 100 Jahre alt und benötigen viel Aufmerksamkeit. Vor allem Gründächer, intensive Bepflanzungen, eine biologische Schallschutzwand und Fassadenbegrünungen sorgen für ein angenehmes Mikroklima und viel Lebensraum für Vögel und Insekten. Den Strom erzeugt man solar und mit modernen Blockheizkraftwerken. Auf dem gesamten Gelände wird das Regenwasser aufgefangen, biologisch gereinigt und in einem zweiten Kreislauf für die Toilettenspülungen und Bewässerung genutzt. Die Biobäckerei mit dem Naturkostladen am Eingang des Geländes, Umweltfestivals, Fahrradkinos, Feste und Diskussionsveranstaltungen beziehen das Thema Nachhaltigkeit auf verschiedensten Ebenen ein. Daher versteht sich die ufaFabrik als „grüne Kulturoase“ im Süden Berlins.
Berlin, ufaFabrik (Bilder: Colin Smith, CC BY SA 2.0, 2013)
Der große Umbau
Mit dem großen Umbau von 1990 veränderte sich das gemeinschaftliche Leben in der ufaFabrik. Nach den Jahren des engen Miteinanders wünschten sich viele Bewohner:innen mehr Privatheit: ein eigenes Zimmer in der Nähe von vertrauten Menschen, kleine Küchen, mehrere Bäder. Doch alle wollten weiterhin eine große Gemeinschaftsküche für die tägliche Begegnung. Nach sechs Jahren der Planung wurde der Umbau mit Fördermitteln realisiert und ein erster Stock auf das Hauptgebäude gesetzt. Seitdem gibt es eine klare Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum. Als ein weiterer Einschnitt wurde in der ufaFabrik die gemeinsame Kasse aufgegeben. Aus dem Verein wurden verschiedene Bereiche ausgegliedert: Organisationen und weitere Vereine wie die Circusschule, der Kulturbetrieb IKC, die LPG-Bäckerei und der Bioladen, das Nachbarschaftszentrum und andere. Nach einem langen Diskussionsprozess wurde entschieden, nun auch Fördergelder zu beantragen und nutzen.
Heute werden alle Beschäftigten nach ihrer Tätigkeit bezahlt. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Einkommen sind jedoch gering im Verhältnis zu anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Alle zahlen eine Pauschale für den Wohnraum, den sie nutzen. Immer noch wird vieles ehrenamtlich erledigt und die vernetzte Arbeitsweise hat weiter einen hohen Stellenwert. Die einzelnen Bereiche wollen sich ergänzen und voneinander profitieren. Manchmal sind viel Geduld, bürokratisches Knowhow und Kreativität gefragt, um dies möglich zu machen.
Berlin, ufaFabrik (Bild: ufaFabrik Berlin)
Getanzt, diskutiert, aufgeräumt
Die ufaFabrik entstand nicht am Planungstisch und ohne Subventionen. Vor allem in der Anfangszeit bestimmten die konkreten Bedürfnisse der Beteiligten alle Aktivitäten und Projekte. In diesem Zukunftslabor probierte sich jede:r aus – menschlich, intellektuell und künstlerisch. Es wurde Tag und Nacht musiziert, gezaubert, Theater gespielt und getanzt, diskutiert, aufgeräumt, geheizt, geputzt, abgewaschen, geliebt, diskutiert, gebacken, gestritten, renoviert und diskutiert. Eine Idee beflügelte alle Beteiligten: das Leben in einen gemeinsamen familiären und ökonomischen Rahmen zu bringen und dabei die Grenzen zwischen Lebens- und Arbeitswelt aufzulösen.
Seither hat sich vieles geändert. Heute gibt es klare Arbeitsstrukturen, eigene Wohnbereiche, Küchen, Badezimmer, persönlich definierte Einkommen. Etliche Mitglieder der einst bis zu 75-köpfigen Gruppe leben heute aus den verschiedensten Gründen nicht mehr in der ufaFabrik, andere sind hinzugekommen. Doch damals wie heute gibt es keine Regel, die nicht infrage gestellt werden kann, so wie sich auch die persönlichen Bedürfnisse des Einzelnen im Laufe des Lebens verändern. Manchmal sind das langwierige konflikthafte Prozesse. Doch am Ende lohnt es sich, weil so alle Beteiligten in Kontakt mit der Gemeinschaft bleiben. In den letzten Jahren hat die Generationenerweiterung Fahrt aufgenommen und Jüngere übernehmen Verantwortung. Auch das ist – bei allem guten Willen – kein einfaches Unterfangen, doch das ist eine andere Geschichte …
Berlin, ufaFabrik (Bilder: Colin Smith, CC BY SA 2.0, 2013)
Berlin, ufaFabrik in den Anfangsjahren (Bild: ufaFabrik Berlin)
Berlin, ufaFabrik (Bild: ufaFabrik Berlin)
Berlin, die Gemeinschaft der ufaFabrik in den Anfangsjahren (Bild/Titelmotiv: ufaFabrik Berlin)
Titelmotiv: Berlin, ufaFabrik in den Anfangsjahren (Bild: ufaFabrik Berlin)
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Leider noch Exoten
Christian Holl über ein altes Problem im modernen Wohnungsmarkt.
FACHBEITRAG: Schwarzwohnen in Halle
Kevin Hanschke über die Nischen im System.
FACHBEITRAG: Die ufaFabrik Berlin
Sigrid Niemer über eines der ersten deutschen Projekte für gemeinsames Arbeiten und Wohnen in einer Industriebrache.
FACHBEITRAG: Wohnen in der Nikolaikirche Rostock
Matthias Ludwig über den Umbau einer mittelalterlichen Kirche zu DDR-Zeiten.
PORTRÄT: Das ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ Dingolfing
Fabian Schmerbeck über eine Idee von Gemeinschaft, die nie wirklich eingelöst wurde.
INTERVIEW: Gemeinschaft auf (Frei-)Zeit
Daniela Spiegel im Gespräch über die Urlaubskultur in der DDR.
FOTOSTRECKE: “Ein Garten für den ganzen Tag”
Elissa Rosenberg über den Kibbuz-Garten, der Mensch und Landschaft zu einer neuen Gemeinschaft formen sollte.