von Kevin Hanschke (22/4)
Eigentlich war der Wohnraum in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) streng reguliert: Er wurde durch staatliche Stellen, Volkseigene Betriebe (VEB) und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) zugewiesen. Auf diese Weise kontrollierten die SED und die DDR-Kader, was an wen unter festgelegten sozialen und parteipolitischen Kriterien verteilt wurde. Hinzu kam, dass Wohnungen in allen Epochen der 40-jährigen DDR-Geschichte knapp waren – praktisch jedoch herrschte viel Leerstand, denn die SED setzte die Kapazitäten vorwiegend im Neubau ein. Während an den Rändern neue Siedlungen entstanden, verfielen die Altstadtviertel, weil Material, Technik und Fachkräfte für Reparaturen fehlten. Zudem machten es die gedeckelten Mieten für private Hausbesitzer:innen finanziell kaum möglich, ihre Gebäude zu sanieren. Das Resultat waren nicht nur die typischen, grauen, zerfallenen DDR-Städte, sondern auch eine Leerstandsquote von bis zu sechs Prozent. Deswegen bildeten das kommunitäre Wohnen, die Hausbesetzung und das von den DDR-Behörden sogenannte Schwarzwohnen zugleich eine subversive, aber auch systemstabilisierende Praxis.
Erfurt, Abrissarbeiten in der Neuwerkstraße, 1985 (Bild: Jörg Blobelt, CC BY SA 4.0)
Fast alle Städte
Das Schwarzwohnen betraf fast alle Städte in der DDR – viel wurde über die Kommunarden in Greifswald berichtet, im mittelalterlichen Andreasviertel in Erfurt gab es Hausbesetzungen, ebenso im Hallenser Paulusviertel, im Leipziger Osten oder in den Altbauquartieren Berlins. Als bekannteste Schwarzwohnerin gilt heute die Bundeskanzlerin a. D. Angela Merkel, die dieser Praxis nach einer Trennung in Ost-Berlin nachging. Die meisten leerstehenden Räume in den DDR-Städten wurden – trotz der omnipräsenten Ordnungshüter:innen, Hausbuchbeauftragten, Abschnittsbevollmächtigten und Vertreter:innen der Staatssicherheit (Stasi) – illegal genutzt.
Bei einer Erfassung in Ost-Berlin wurden 1979 in Friedrichshain 534 besetzte Wohnungen festgestellt. Im Jahr 1987 registrierte die Abteilung Wohnungspolitik im Prenzlauer Berg 1270 Fälle von „ungeklärten Mietverhältnissen“. In anderen Berliner Stadtbezirken waren die Zahlen nicht ganz so hoch, aber auch hier wurden Wohnungen besetzt. Demgegenüber verdeutlicht die Zahl von 700 Personen ohne offizielle Zuweisung im Jahr 1990 in Rostock, dass es sich keineswegs nur um ein Phänomen der DDR-Hauptstadt handelte. Heute rechnen Architekturhistoriker:innen damit, dass in den Hochzeiten der 1980er Jahre mehr als 10.000 DDR-Bürger:innen die staatliche Wohnraumlenkung unterwandert haben.
Greifswald, Altstadt, 1990 (Bild: Felix O., CC BY SA 2.0)
Leben im Abriss
Vor allem in der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren war dieses Modell populär – war es doch ansonsten für Unverheiratete und Menschen ohne Kinder nahezu aussichtslos, dass man ihnen eine eigene Wohnung zuwies. Obwohl dieses Thema in der Forschung nach der Wiedervereinigung umfassend ausgeleuchtet wurde, fehlen bis heute wissenschaftliche Arbeiten zum doch sehr starken Phänomen des Schwarzwohnens. Das mag auch daran liegen, dass die Quellenlage (abgesehen von den Archiven der Stasiunterlagenbehörde) sehr dürftig ist.
Ihre Unsichtbarkeit war eben auch Existenzbedingung wie Sicherheit der Schwarzwohner:innen. Junge Menschen handelten auf eigene Faust, einen städte- oder quartiersübergreifen Austausch zwischen den Hausbesetzer:innen gab es kaum – Forscher:innen benennen diese Wohnform deshalb heute auch nicht als ‘Bewegung’. Zu unterschiedlich seien die Menschen gewesen, daneben auch zu wenig politisch organisiert. Trotzdem gibt es Städte, in denen Einzelbeispiele dokumentiert wurden. In Halle etwa war das (so wurde es hier genannt) „Leben im Abriss“ weit verbreitet.
Halle an der Saale, Große Märkerstraße 23, 1991 (Foto/Titelmotiv: Joachim F. Thurn, BIld: Bild F089047-0034, CC BY SA 3.0)
Zum Beispiel Halle
Mit den Dokumenten der Abteilung Wohnungspolitik des Rats des Stadtbezirks Halle-West lässt sich beispielsweise die Historie eines Hauses darstellen. Es lag in einem zur ‘Rekonstruktion’ vorgesehenen Viertel zwischen Markt und Domplatz. Hier zogen häufiger Schwarzwohner:innen ein, denn das verwahrloste historische Viertel stagnierte. Die Bewohner:innen erfuhren von der Stadt nicht, ob und wann die geplante Modernisierung starten würde.
Im Oktober 1981 besetzen zwei junge Paare eine seit Jahren leerstehende Wohnung. Die beiden Frauen hatten bis dahin – unter beengten Verhältnissen – in unmittelbarer Nachbarschaft bei ihren Eltern gelebt. Ihre neu, besetze Wohnung war heruntergekommen und musste für den bevorstehenden Winter instandgesetzt werden. Die jungen Leute im Alter zwischen 17 und 20 Jahren arbeiteten als Bauarbeiter:innen oder Kellner:innen oder waren noch in der Lehrausbildung. Sie bauten neue Fenster und Rahmen ein und beschafften sich einen Küchenofen. Direkt nach ihrem Einzug zahlten sie Miete.
Dieses Beispiel war typisch: Man besorgte sich die Kontoverbindung der staatlichen oder privaten Hauseigentümer:innen und erfragte bei Nachbar:innen die Höhe der Miete. Zwei Monate nach ihrem Einzug sprachen die jungen Leute bei der Abteilung Wohnungspolitik des Stadtbezirks vor, um ihre Aktion nachträglich zu legalisieren. Schließlich hätten sie ihr Problem durch Eigeninitiative gelöst, so das Argument. In der Behörde sah man das jedoch anders. Den jungen Leuten wurde aufgetragen, schnellstens wieder auszuziehen. Obwohl sie diese Ansage ebenso ignorierten wie den folgenden Räumungstermin, geschah zweieinhalb Monate lang nichts. Damit entpuppte sich der relativ raue Ton des Wohnungsamts als reine Drohgebärde.
Halle an der Saale, Blick von der Marktkirche auf die Altstadt, 1972 (Bild: Jörg Blobelt, CC BY SA 4.0)
Die Räumung
Vielleicht wären die vier Schwarzwohner:innen von Halle noch lange unbehelligt geblieben, aber ein unglücklicher Zufall ließ die Situation eskalieren: Einer der jungen Leute hatte den Arbeitsplatzwechsel beantragt. Als ihm sein Wunsch in einem Gespräch verweigert wurde, reagierte er verärgert. Daraufhin ließ sich der Leiter der Kontrollstelle des Stadtbezirks Halle-West, der bei dem Termin zugegen war, den Personalausweis zeigen. Beim Abgleich mit den Wohnungsunterlagen entdeckt er, dass für die im Ausweis eingetragene Adresse keine Zuweisung erteilt worden war – ein Problem in der sonst überregulierten DDR.
Die Vertreter:innen der Staatsmacht drohten mit der Zwangsräumung binnen drei Tagen. Obwohl der junge Mann nochmals beim Amt für Arbeit vorstellig wurde und „sachlich“ auftrat, änderte sich an diesem Termin nichts. Zur angekündigten Uhrzeit standen ein Mitarbeiter der Abteilung Wohnungspolitik und der Leiter der Kontrollstelle des Stadtbezirks vor der Tür. Der Ton war barsch: „Sofort die Wohnung verlassen!“, stand in einer am nächsten Tag verfassten Eingabe. Dem mussten die jungen Leute – sofort und ohne etwas mitzunehmen – Folge leisten. Die Wohnungstür wurde versiegelt und die Volkspolizisten erhielten den Auftrag, das Siegel regelmäßig zu überprüfen.
Halle an der Saale, Fachwerkhäuser in der Altstadt, 1991 (Foto: Joachim F. Thurn, Bild: Bild F089038-0011, CC BY SA 3.0)
Geduldet
Nach der Zwangsräumung übernachteten die jungen Leute bei einer Nachbarin und zogen am nächsten Tag zurück in ihre Wohnung. Der Leiter der Abteilung Wohnungspolitik des Stadtbezirks erstattete daraufhin Anzeige wegen Aufbrechen eines Siegels. Noch am Tag zuvor hatten die Schwarzwohner:innen eine Eingabe verfasst: „Wir können uns nicht vorstellen, daß es in unserem sozialistischen Land möglich ist, junge Leute auf die Straße zu setzen“. Erstaunlicherweise wurde diese konstruktive Kritik in der Stadtverwaltung angenommen. Zwar bekräftigte die Behörde, dass das Haus schnellstmöglich geräumt werden müsse, da es “zur Rekonstruktion vorgesehen” sei. Dennoch wurde dem älteren der beiden Paare eine Ausbauwohnung angeboten. Man vereinbarte, die Arbeiten gemeinsam mit der jungen Frau durchzuführen.
Im Gegensatz dazu wurden die beiden jüngeren Schwarzwohner:innen dorthin zurückgeschickt, wo sie hergekommen waren – ins Lehrlingswohnheim und in die elterliche Wohnung. Sie räumten die Wohnung freiwillig und gaben den Schlüssel ab. Doch wieso verfolgten die staatlichen Stellen solche Fälle nur selten? Es gab keinen wirklichen Überblick über Hausbesetzungen. So bestand in Halle vor der großen Amnestie im Jahr 1987 plötzlich ein außerplanmäßiger Bedarf an Wohnungen. Damals musste man Honorarkräfte losschicken, um festzustellen, ob die vermeintlich leerstehenden Räume auch tatsächlich verfügbar waren – häufig waren sie es nicht.
Die staatliche Machtausübung wurde ebenso durch das Zivilgesetzbuch begrenzt. Niemand durfte auf die Straße geräumt werden, wenn keine andere zumutbare Wohnung zur Verfügung stand. Ein weiteres Beispiel unterstreicht das noch: Gut ein Jahr, nachdem die vier jungen Leute das Haus geräumt hatten, zog hier ein junger Mann ein. Die Akten dokumentieren, dass er nachträglich eine Zuweisung für diese Wohnung erhielt. Was gab den Ausschlag, dass die Behörde nun zugunsten eines Schwarzwohners in eben jenem Haus entschied, das sie gut zwei Jahre geräumt hatte? Da der Baubeginn im Viertel weiterhin unsicher war, wirkte der junge Mann offenbar akut bedürftig – er war Soldat und konnte nach einer Ehescheidung nicht bei seiner Familie wohnen.
Punk in einer DDR-Altbauwohnung (Bild: Merit Schambach, CC BY SA 3.0)
Keimzelle der Opposition
Die Abteilung Wohnungspolitik in Halle-West hatte aus verschiedenen Gründen keinen Überblick darüber, welche Wohnungen im Stadtbezirk genau belegt waren. Daher blieb es dem Zufall überlassen, ob man als Schwarzwohner:in entdeckt wurde oder nicht – 1988 waren 18 Fälle aktenkundig, im Jahr zuvor nur drei. Die Behörden reagierten zweigleisig: Zum einen wurde ein Ordnungsstrafverfahren eingeleitet, zum anderen die Räumung der Wohnung gefordert. Doch eine solche Strafzahlung zwischen 100 und 500 Mark war oft kaum mehr als eine Formalie. Viel wichtiger war die Entscheidung über den Verbleib in der Wohnung.
Versteht man den SED-Staat als kontrollierende, repressive Instanz, dann wirkt das massenhafte Schwarzwohnen wie ein Versagen der Diktatur. Möglich wurde es durch eine gewisse Selbstblockade des Staats: Zum einen reklamierte er das Recht für sich, die Wohnraumvergabe zu kontrollieren, zum anderen war er durch das Zivilgesetzbuch daran gebunden, niemanden auf die Straße zu räumen. Doch diese Situation änderte sich stark zum Ende der DDR. Nun wurden die Behörden auch gegenüber den Hausbesetzer:innenn immer repressiver, von denen teils oppositionelle Aktivitäten ausgingen. In der Friedlichen Revolution entwickelten sich gerade hier wirksame Protestinstrumente wie Ausstellungen, Lesungen, Punk-Konzerte und illegale Kneipen.
Literatur
Pfeiler, Sabrina, Schwarzwohnen in Halle an der Saale. “Hauptsache mein eigenes kleines Reich”, Halle an der Saale 2015, via Schwarzwohnen in Halle an der Saale. Kulturfalter Halle.
Grashoff, Udo, Schwarzwohnen als subversive und zugleich systemstabilisierende Praxis, in: Deutschland Archiv, 10. März 2016.
Grashoff, Udo, Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR, Göttingen 2011.
Topfstedt, Thomas, Wohnen und Städtebau in der DDR. In: Flagge, Ingeborg (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5, 1945 bis heute. Aufbau Neubau Umbau, Stuttgart 1999.
Buck, Hansjörg F., Mit hohem Anspruch gescheitert – Die Wohnungspolitik der DDR, Münster 2004, S. 344.
Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern. Bericht der Kommission, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Berlin 2000.
Titelmotiv: Halle an der Saale, Große Märkerstraße 23, 1991 (Foto: Joachim F. Thurn, BIld: Bild F089047-0034, CC BY SA 3.0)
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Leider noch Exoten
Christian Holl über ein altes Problem im modernen Wohnungsmarkt.
FACHBEITRAG: Schwarzwohnen in Halle
Kevin Hanschke über die Nischen im System.
FACHBEITRAG: Die ufaFabrik Berlin
Sigrid Niemer über eines der ersten deutschen Projekte für gemeinsames Arbeiten und Wohnen in einer Industriebrache.
FACHBEITRAG: Wohnen in der Nikolaikirche Rostock
Matthias Ludwig über den Umbau einer mittelalterlichen Kirche zu DDR-Zeiten.
PORTRÄT: Das ‘Gastarbeiter-Wohnheim’ Dingolfing
Fabian Schmerbeck über eine Idee von Gemeinschaft, die nie wirklich eingelöst wurde.
INTERVIEW: Gemeinschaft auf (Frei-)Zeit
Daniela Spiegel im Gespräch über die Urlaubskultur in der DDR.
FOTOSTRECKE: “Ein Garten für den ganzen Tag”
Elissa Rosenberg über den Kibbuz-Garten, der Mensch und Landschaft zu einer neuen Gemeinschaft formen sollte.