von Verena Pfeiffer-Kloss (23/1)

“In der Hoffnung auf viele friedlich-farbige aber auch spannend-farbliche Ereignisse […] gebe ich jetzt gewissermaßen den Startschuss für das deutsche Farbfernsehen.”Mit diesen Worten auf der Deutschen Funkausstellung in Berlin zauberte der West-Berliner regierende Bürgermeister Willy Brandt am 25. August 1967 die Farbe in die (wohlhabenderen) deutschen Wohnzimmer. Zufall oder nicht, in den Folgejahren wurde auch die Stadt bunt: Farbe zog ein in die Architektur und dies, sicherlich kein Zufall, ganz plakativ in der „Frontstadt“ West-Berlin und angetrieben durch die senatseigene Architektur, die damals insbesondere durch den Leiter der Hochbauabteilung Rainer Gerhard Rümmler (1929–2004) vertreten wurde. In der ab 1963 errichteten Großwohnsiedlung Märkisches Viertel im Norden der Stadt leuchteten bereits einige der Punkthochhäuser Rot, Gelb und Grün, als Rümmler 1971 mit einem als provokant wahrgenommenen Bauwerk farbiger Architektur für alle sichtbar eine hohe Relevanz verlieh.

Gegenkraft zu den grauen NS-Bauten: U-Bahnhof Fehrbelliner Platz, 2022 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Unverhohlen reaktionär

Am 31. Januar 1971, laut historischem Wetterbericht ein leicht verregneter Tag bei sechs Grad Celsius, fielen am Fehrbelliner Platz die Bauzäune und der neue U-Bahnhof mitsamt Eingangspavillon wurde eröffnet. Mitten im grauen Berliner Winter und vor der Kulisse graubrauner nationalsozialistischer Verwaltungsbauten strahlte in frischem Rot das neue Wahrzeichen West-Berliner U-Bahnarchitektur. Verstörte Bürger:innen schlugen vor, den Platz nun “Leninplatz” zu nennen und fragten sich öffentlich in den Leserbriefen lokaler Zeitungen, ob die SPD sich hier habe ein Denkmal setzen wollen und ob der Architekt Kommunist sei.

Weniger emotional und zeitpolitisch, dafür unverhohlen reaktionär waren Meinungen, die die Integrität der 1936 entstandenen Bauten durch diesen Neubau verletzt sahen. “Hat es dieses Rot sein müssen?”, fragte die BZ. “Ja”, antwortete Rümmler in der Zeitung Die Welt, “das Rot ist bewußt gewählt, um eine Gegenkraft zu den monoton grauen Wänden zu bekommen. Wir wollten ein Spannungsfeld erzeugen, das durch die vorhandenen Architekturen nicht gegeben war.” In der Folge entspann sich eine lokale Debatte um den Umgang mit dem nationalsozialistischen baulichen Erbe an diesem Ort, dessen Existenz bis dahin einfach verdrängt worden war. Es war aber auch eine Ansage gegen die damals viel besprochene Monotonie der modernen Bauten, auf die der immer schon postmodern – oder in seinen eigenen Worten „post-sachlich“ – entwerfende Rümmler hier reagierte. Die Sozialismus-Vorwürfe zeigen zudem, dass ganz explizit die Farbigkeit der Architektur, die Farbe im öffentlichen Raum politisch sein kann. Insbesondere natürlich in West-Berlin.

Grenzübergang Dreilinden, 2022: (einst) knallbunte Pop-Art am Übergang zur DDR (Bild: Jonatan Anders)

Der fröhliche Grenzübertritt

Wenige Jahre später, am 3. April 1973, eröffnete mit dem rot-blauen, massiven Halbrundbau am Grenzübergang Berlin-Drewitz-Dreilinden ein weiteres starkfarbiges Statement des Stadtarchitekten. Rümmlers wohl bekanntestes Bauwerk, die „Bundesautobahnraststätte Dreilinden mit Tankstelle“ sollte eigentlich, wäre es nach den Vorstellungen der Gesellschaft für Nebenbauten der Bundesautobahnen (GfN) gegangen, ein einfacher Typenbau werden. Mit der für ihn typischen Verve setzte sich Rümmler über alle Vorgaben hinweg und entwarf stattdessen “das rot-blaue Schmuckstück an der Autobahn” (Die Welt am 4. Juli 1972), das später “eine starke symbolische und identitätsstiftende Rolle” für die West-Berliner:innen einnehmen sollte – so der Eintrag in die Berliner Denkmalliste, Inventarnummer 09075573. Direkt am Grenzübergang zur DDR markierte West-Berlin sein Territorium mit einem Bau im Stile der Pop Art – dieses Aufeinandertreffen von westlichem Positivismus und real existierendem Sozialismus ist ohne Farbe nicht denkbar: galt doch nicht zuletzt die DDR immer als grau. Ob die fröhliche, gelb-rot-braune Plastikauskleidung im Innern der Raststätte durch die 1971 in München eröffnete erste McDonalds Filiale Deutschlands inspiriert war? Mag sein. Auch dies war ein Statement: amerikanische Fast Food Architektur als letzter Speiseort beim langen Warten an einer der schärfsten Grenzen des Kalten Krieges.

In den frühen 1970er Jahren ging es in der offiziellen West-Berliner Architektur bewusst darum, politische Zeichen zu setzen, die westliche Popkultur im baulichen Ausdruck zu zeigen und zu beweisen, dass die Stadt kulturell und wirtschaftlich auf der Höhe der Zeit war. Wer hier keinen Farbfilm zur Hand hatte, konnte wohl tatsächlich kaum auch nur die Hälfte dieser Botschaft weiter vermitteln. Ob die Tatsache, dass die Firma Eternit – die die berühmten, besonders leuchtend einfärbbaren „Eternit-Platten“ herstellte – in Berlin-Rudow saß, der Farbigkeit im Berliner Bauwesen noch Vorschub leistete, bleibt Spekulation. Der rot verkleidete „Bierpinsel“ von Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler (eröffnet 1976) und das orange leuchtende Oberstufenzentrum Berlin-Wedding (1974–1976) setzten jedenfalls als prägnante Beispiele die neue Farbigkeit fort, die Rümmler aus der Verwaltung heraus eingeleitet hatte. Mitte der 1970er Jahre hatte die Farbigkeit in der Architektur ihre politische Brisanz bereits ein wenig eingebüßt, blieb jedoch als architektonischer und städtebaulicher Akzent von Bedeutung. Hatte die Süddeutsche Zeitung 1971 noch Rümmlers “Bekenntnis zur Farbe” gelobt, das “erste Schritte in das Neuland farbiger Umweltgestaltung einleitete”, so war Farbe nun etabliertes Element in der West-Berliner Architektur geworden – und durfte demnach auch wieder dezenter werden. Bis 1976 wurden unter anderem zwei Feuerwachen – in der Wiener Straße in Kreuzberg und in Wannsee – sowie das Finanzamt Reinickendorf aus dem Filzstift Rümmlers fertiggestellt.

Ein Dampfer, vor Anker gegangen am Eichborndamm: Finanzamt Reinickendorf (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Schiffe in den Stadtteilen

Auch diese Bauwerke sind bis heute ortsbildprägend, aufgrund ihrer schiffsähnlichen Baukörper und natürlich ihrer Farbigkeit. Schwarz und Umbra sind die Fassaden, mit roten oder sonnengelben Fenstereinfassungen, Rollläden, Balkonen, Hausnummern abgesetzt und, im Falle des Finanzamts, im Inneren mit einem unverwechselbaren farbigen Leitsystem ausgestattet. Am Beispiel des Finanzamts wird deutlich, dass Rümmlers Hochbauten Mitte der 1970er Jahre sachlicher, gewissermaßen reifer und auch funktionsorientierter wurden, ohne dabei die Farbigkeit als Ausdrucks- und Auszeichnungsmittel zu verlieren. In baukünstlerischer Hinsicht kann das große Amtsgebäude am Eichborndamm zu den ausgefeiltesten und damit den Höhepunkten der Hochbauarchitektur Rümmlers gezählt werden. “Die Innenräume des Finanzamts überwältigen den überraschten Besucher mit ihrer Farbkraft. Der aufmerksame Gast wird zur Entdeckung verführt, zum Blick um die nächste Ecke verlockt”, schreibt AnneMarie Neser 2014.

Öffentliche und halböffentliche Bereiche sind farblich voneinander unterschieden, indem die Wände der öffentlichen Räume in starken Farben und mit einem Leitsystem angestrichen sind, während die Bürotrakte in sanfteren Farben gehalten sind. In den Publikumsbereichen wechseln sich die Farben in den einzelnen Stockwerken ab, überall sind die Türen gelb-rot, die Toilettentüren rot und mit lebensgroßen weißen Figuren versehen, runde und mehreckige Informationstafeln mit breiten farbigen Rahmen befinden sich an den Wänden. Die Kantine (im Übrigen ein Geheimtipp bei einem Berlin-Besuch) im obersten, achten Stockwerk ist mit gelben Fliesen in der Küche, dunkelbraunen Sitznischen im Speisesaal und übergroßen orangen Lampen unter einer Strukturdecke aus kleinen Ringen ausgestattet. Ganz zurückhaltend und beinahe klassisch modern sind die graublauen Treppenhäuser gehalten, in denen sanft geschwungene hölzerne Handläufe das einzige Schmuckelement darstellen. Im Finanzamt Reinickendorf mischen sich Pop Architektur und eine gewisse neue Sachlichkeit, der sich Rümmler zu diesem Zeitpunkt anzunehmen begann.

Berlin, Finanzamt Reinickendorf (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Farbe und Piktogramme: Rümmlers Signaletik für das Finanzamt Reinickendorf (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Eine Reminiszenz an die “Schule der Neuen Prächtigkeit”

Zehn Jahre später, Ende der 1980er Jahre, gehörte Rümmler zu den Berliner Protagonisten einer regionalbezogenen Architekturströmung, die sich mittels traditioneller Bauformen und Baumaterialien einer historisch orientierten Formensprache zuwendete. In seinen Bauten zeigt sich dies mitunter in einer erdigen, naturnahen Farbigkeit, die sich zum einen aus der Nutzung gelber und braunroter Rathenower Ziegel ergibt, aber auch als Dekoration einzelner Bauwerke bewusst aufgetragen wird. Ein gutes und zugleich sehr verstecktes Beispiel dafür ist der Fußgängersteg über die S-Bahntrasse an der Ernststraße in Berlin-Tegel. Die schmale Betonbrücke wendelt sich zwei Schlaufen nach oben und überwindet eine recht weite Strecke auf die jeweils andere Seite der Gleisanlage.

Rümmler hat mehrere Entwürfe für die Gestaltung angefertigt, zur Ausführung kam der Entwurf „Neue Prächtigkeit“, eine Reminiszenz an die West-Berliner Künstlergruppe aus Manfred Bluth, Johannes Grützke, Matthias Koeppel und Karlheinz Ziegler, die sich „Die Schule der neuen Prächtigkeit“ nannte und die Rümmler schätzte. Die durchgehende Betonbalustrade – für die „Schüler der neuen Prächtigkeit“ muss ein solch kahles und verkehrsfunktionales Bauwerk wohl ebenso ein Graus gewesen sein wie für Rümmler – verkleidete bzw. bemalte er mit einer regelmäßigen Bordüre aus spitzen Dreiecken in mittlerem Braun und Flieder sowie sonnen- oder sommerblumenähnlichen gelb-roten Formen auf karminrotem Hintergrund. Die Farbigkeit der Brücke spielt gelungen kontrastreich mit der grünen Umgebung, doch wirklich prächtig ist das Bauwerk nicht geworden. Es wirkt verkleidet. Farbe ist hier zum reinen Schmuckelement ohne Zeichengehalt geworden, man kann sie einsetzen oder auch nicht. Ein gesellschaftspolitisches Ereignis war die Farbe wohl nicht mehr. Das sieht man dem heutigen Zustand vieler Bauten Rümmlers auch leider an.

Berlin-Tegel, Ernststraßenbrücke: kontrastreiches Spiel mit der grünen Umgebung (Bild: Frederic Krämer)


Literatur und Quellen

Der Start des Farbfernsehens ist zu sehen auf youtube.

Anders, Jonatan, Berlin-Dreilinden. Relikt des Transits (erscheint 2023 bei Urbanophil).

Ullmann, Gerhard, Wenn Architektur Farbe bekennen soll, in: Süddeutsche Zeitung, 8. Dezember 1971.

Neser, AnneMarie, Architekturfarbigkeit der 1970er-Jahre in Berlin und Zürich – zur Geschichte der Farbkultur für den Umgang mit Farbe in Gegenwart und Zukunft, in: Buether, Axel (Hg.), Farbe: Entwurfsgrundlage, Planungsstrategien, visuelle Kommunikation (Detail Praxis), München 2014, S. 80–87, hier S. 82.

Berlin, Finanzamt Reinickendorf (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Titelmotiv: Berlin, Finanzamt Reinickendorf (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)


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Bonusbeitrag

Inhalt

LEITARTIKEL: Farbe bekennen

LEITARTIKEL: Farbe bekennen

Stefanie Wettstein und Marcella Wenger über das Erkennen, Rekonstruieren und Bewahren von Farbkonzepten.

FACHBEITRAG: StadtBauKunst

FACHBEITRAG: StadtBauKunst

Julia Hausmann über zwei farbstarke Siedlungen der 1920er von Bruno Taut, die heute zum UNESCO-Welterbe zählen.

FACHBEITRAG: Grün ohne Hoffnung

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Der Abriss der Stadthalle Mettmann, der “Laubfroschoper”, scheint kaum mehr abzuwenden. Elke Janßen-Schnabel beschreibt den Spätmoderne-Bau.

FACHBEITRAG: Bitte den Farbfilm nicht vergessen!

FACHBEITRAG: Bitte den Farbfilm nicht vergessen!

Verena Pfeiffer-Kloss über die Pop-Moderne-Bauten von Rainer G. Rümmler in West-Berlin.

PORTRÄT: Hajek im Farbrausch

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Daniel Bartetzko über die Erkennungszeichen eines allgegenwärtigen Bildhauers.

INTERVIEW: "Die Moderne ist nicht grau"

INTERVIEW: “Die Moderne ist nicht grau”

Die Moderne als Farbraster: mR im Gespräch mit Paul Eis, der beigen Bauten am Computer Farbe und Leben einhaucht.

FOTOSTRECKE: Modernisierte Moderne

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Martin Maleschka ist auf den Spuren gedämmter DDR-Plattenbauten – und ihren fragwürdigen Farbgestaltungen.

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