von Karin Berkemann (19/1)
Eine Tankstelle wird zur Kapelle, das ist der Traum eines jeden kirchlichen Schreibers. Passende Wortspiele (Auftanken + Seele) liegen derart auf der Straße, dass sie sich fast schon wieder verbieten. Aber auch ganz nüchtern betrachtet, passen alte und neue Nutzung an der Autobahnraststätte Rhynern bei Hamm bestens zusammen: Reisende haben Bedürfnisse und finden hier einen Ort, um diesen nachzugehen. Wenn dabei dann noch eine denkmalgeschützte Autobahntankstelle erhalten und mit einem neuen Sinn gefüllt wird, bleiben sogar für Modernisten keine Wünsche mehr offen.
Am “Tor Westfalens”
links: Autobahnkapelle Hamm (Bild: Georg Brox, CC BY SA 3.0, 2005); rechts: Autobahn-Raststätte Rhynern (Bild: historische Postkarte, Luftbild K. G., Hamburg/München)
Die Bundesautobahn 2 (A 2) entstand ab 1933 als Ost-West-Achse, die von Oberhausen über Hannover und Magdeburg bis nach Berlin verlaufen sollte. 1938 wurde die Teilstrecke im Westfälischen dem Verkehr übergeben. Bei Rhynern, das seit 1974 zur Stadt Hamm gehört, errichtete man 1939 eine provisorische Raststätte. Den Plan dafür zeichnete kein Geringerer als der Düsseldorfer Architekt Helmut Hentrich, der später im renommierten Büro Hentrich, Petschnigg und Partner (HPP) am Düsseldorfer Dreischeibenhaus (1960) beteiligt sein sollte. Ende der 1930er Jahre hatte er den Weg in den Kreis um Albert Speer gefunden, der zuletzt als “Wiederaufbaustab” seinen Dienst tat. Nach Kriegsende wurde die Raststätte Rhynern bis 1948 ausgebaut, indem man auf die Entwürfe von Hentrich zurückgriff: Zwei Tankstellen – eine im Süden, eine im Norden – rahmten als “Tor Westfalens” eine vierspurige Autobahn, begleitet von Parkplätzen, einem Rasthof mit Gastronomie.
Nutzlos mit Verkehrsanschluss
links: Autobahnkapelle Hamm (Bilder: links: Georg Brox, CC BY SA 3.0, 2009; rechts: Tim Reckmann, CC BY SA 3.0, 2008)
Die durchdachte symmetrische Anlage tat bis Mitte der 2000er Jahre ihren Dienst, bis die A2 auf sechs Spuren ausgebaut wurde. Statt zweier Häuschen erhielt Rhynern nun im Osten eine größere Tankstelle. Doch die Architekturen der 1940er Jahre standen seit 1990 unter Denkmalschutz, sollten also erhalten bleiben. Rasch gründete sich eine Initiative, die aus der nördlichen Tankstelle eine Kapelle machen wollte. Das Modell der Autobahnkirche war in der BRD seit 1958 bekannt und bewährt, mit den Jahren hatte man solche Stationen auch in historischen Räumen einzurichten gelernt – und eine bessere Verkehrsanbindung als in Rhynern war kaum zu finden. Der evangelische Kirchenkreis Hamm übernahm den Vorstoß, der Bund als Eigentümer der Anlagen konnte überzeugt, ein ökumenisch besetzter Förderverein gegründet, die Stadt mit für die Finanzierung gewonnen und der Umbau bis 2009 abgeschlossen werden.
Kunstvolles Understatement
Autobahnkapelle Hamm (Bilder: links: Martin Brunsmann, CC BY SA 3.0, 2009, rechts: Bergfels, via flickr)
Die Außenanlagen wurden in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege wieder nach dem Vorbild der Bauzeit hergestellt. In das entkernte Innere der ehemalgien Tankstelle, die teils noch von der Autobahnmeisterei genutzt wird, brachte man die Kapelle als hölzernen Einbau ein. Der Raum erhält sein Licht durch ein schlichtes hochliegendes Fensterband. Die Ausstattung ist auf Bänke, einen Altartisch, ein Lesepult und einen Kerzentisch beschränkt – alle Teile aus Corten-Stahl aus einer Schmiede der Abtei Königsmünster. Nach außen markiert ebenfalls seit 2009 die haushohe Cortenstahl-Installation “Tor” des Künstlers Michael Düchting den kirchlichen Ort.
Jährlich rund 20.000 Besucher
Autobahnkapelle Hamm (Bilder: links: Bergfels, via flickr; rechts: Patrick, via flickr)
Für Besucher steht die Autobahnkapelle Hamm nun von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends über ein automatisiertes Schließsystem offen. Der Raum wurde bewusst nüchtern gehalten, was nicht nur dem Protestantismus westfälischer Prägung entspricht, sondern auch dem Anspruch auf einen konfessions-, vielleicht sogar religionsübergreifenden Ruheort. Jährlich nehmen rund 20.000 Menschen diese Einladung an. Die Erinnerung an die alte Funktion einer Tankstelle bleibt eine rein bauliche – von den Zapfsäulen oder ähnlichen technischen Einrichtungen blieb nichts erhalten.
Literatur
Antz, Christian/Berkemann, Karin (Hg.), 100 spirituelle Tankstellen. Reisen zu christlichen Zielen, Freiburg i. Br. 2013, aktualisierte Neuausgabe 2015.
Foto-Porträts zur Autobahnkapelle Hamm auf flickr: Bergfels, Dirk van Keulen, Patrick.
Titelmotiv: Autobahnkapelle Hamm (Bild: Dirk van Keulen, via flickr)
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Inhalt
Insel mit Zapfsäule
LEITARTIKEL: Till Schauen über neue Treffpunkte.
Das Caltex-System
FACHBEITRAG: Ulrich Biene unter frei schwingenden Dächern.
Die Shell-ODK und -ODZ
FACHBEITRAG: Peter Huber über moderne Tankstellen-Typen.
Die Minol-Story
FACHBEITRAG: Daniel Bartetzko über eine ostdeutsche Kultmarke.
Die Autobahnkapelle
PORTRÄT: Karin Berkemann macht unterwegs kurz Pause.
“Dem Abriss geweiht”
INTERVIEW: Joachim Gies und sein Foto-Projekt “Abgetankt”.
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FOTOSTRECKE: Unsere LeserInnen haben zur Kamera gegriffen.