von Robinson Michel (24/1)
Mit dem Dyckerhoff-Areal findet sich im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Amöneburg ein Großkomplex der Zementindustrie. Für den Ausbau des Geländes in der Nachkriegszeit zeichnete der Architekt Ernst Neufert verantwortlich. Neben den großen Wärmetauscher-Türmen, einer Mühle, einem Klinkerlager, einer Siloanlage, einer Schiffsverladestation mit Rohrbrücke und mehreren Werkstätten entwarf er auch ein 15-stöckiges Hochhaus am Rheinufer. Die elf – zuvor auf dem gesamten Dyckerhoff-Gelände verteilten – Verwaltungseinheiten konnten in diesem Neubau ab 1962 zusammengefasst werden.
Wiesbaden, Dyckerhoff-Hochhaus, Außenbau mit Lochfassade (Bilder: links: Kristin Schubert; rechts: Robinson Michel, 2023)
Aufstrebend am Rhein
Von Weitem, auch von der Mainzer Rheinseite aus sichtbar, überragt das Dyckerhoff-Hochhaus seine Umgebung. Zwischen der Biebricher Straße und dem Flussufer steht der Bau am Rand des zugehörigen Industriekomplexes. Die Dyckerhoff GmbH, 1864 als „Portland-Zement-Fabrik Dyckerhoff & Söhne“ gegründet, ist heute ein Tochterunternehmen der Buzzi Unicem S. p. A. Über die Jahrzehnte war der Betrieb zu einem Pionier der Zementindustrie avanciert – mit zahlreichen Innovationen in den Sparten Materialgewinnung, Produktverarbeitung und der Baustoffforschung.
Ab 1946 beauftragte das boomende Unternehmen den renommierten Darmstädter Architekten Ernst Neufert damit, zahlreiche Neubauten für die Firmengelände in Amöneburg und für weitere deutsche Standorte zu entwerfen. Unter Denkmalschutz stehen heute die innovativen Zwillingstürme der Dyckerhoff-Öfen A und B (1966), die vor Ort den Beinamen „Neufert-Kathedrale“ tragen. Aber auch das Verwaltungshochhaus am Rhein erfährt vielerlei Beachtung. Zum einen aufgrund seiner städtebaulich exponierten Lage, zum anderen durch die wiederholt diskutierte Nutzungsfrage. Denn spätestens seit der Übernahme durch Buzzi entfiel ein Großteil der Verwaltung in Amöneburg und immer mehr der Büroflächen schienen obsolet. Nachdem das Hochhaus 2021 an die Wiesbadener Stadtentwicklungsgesellschaft (SEG) verkauft wurde, sind verschiedene Zukunftsszenarien denkbar.
Wiesbaden, Dyckerhoff-Hochhaus, Stützensysteme im Erdgeschoss (Bilder: links: Robinson Michel, 2023; rechts: Kristin Schubert)
Dyckerhoff Weiß
1963 hatte man das Hochhaus nach nur zwei Jahren Bauzeit fertiggestellt. Neufert entwickelte dafür eigens eine innovative Stahlbeton-Skelettkonstruktion mit einem besonders dünnen Stützensystem. Daran wurden die vorgefertigten Beton-Fassadenteile – direkt nach dem Auslösen aus der Schalung – ohne weitere Behandlung angehängt.
Alle sichtbaren Fassadenelemente wurden mit weißem Portland-Zement (dem Erfolgsprodukt „Dyckerhoff Weiß“) in grobkörnigem Waschbeton ausgeführt. Dieser verleiht dem Außenbau eine raue Oberfläche mit großer Tiefenwirkung. In der regelmäßig gerasterten Lochfassade zeigen die Fenster gerundete Ecken. Letztere sind zum einen gestalterisch, zum anderen fertigungstechnisch begründet. Darüber hinaus wird der Eingang durch ein Flugdach markiert, das als Stahlbeton-Faltkonstruktion ausgebildet ist.
Wiesbaden, Dyckerhoff-Hochhaus, Wandverkleidung im Foyer (Bild: Robinson Michel, 2023)
Prominent empfangen
Das Herzstück des Baus bildet die 6,50 Meter hohe Eingangshalle, die durch eine vollständig verglaste Außenhaut und schwarz-weiße, strahlenförmig gemusterte Wandverkleidungen aus Betonwerkstein besonders ausgezeichnet wird. Unverkleidete Betonstützen, ebenfalls aus “Dyckerhoff Weiß”, zeugen von der Detailverliebtheit des Bauhausschülers Neufert. Durch raumhohe Fenster wirkt das zum Rhein ausgerichtete Foyer lichtdurchflutet. Der Architekt hatte hier die berühmten Barcelona-Chairs von Ludwig Mies van der Rohe vorgesehen. Bauzeitliche Fotografien des Dyckerhoff-Foyers erinnern so an die Eingangshalle des Lake Shore Drive Apartments, das Mies van der Rohe bis 1951 in Chicago verwirklichte.
Neben der Eingangshalle befinden sich im Erdgeschoss noch ein Empfangsbereich, die Hausverwaltung sowie die Poststelle der Dyckerhoff-Verwaltung. Außer zwei Untergeschossen, einem Technikgeschoss, einer Etage mit Sitzungsräumen und dem Kasino (einer Cafeteria für die Mitarbeitenden im elften Obergeschoss mit Rundumblick) gibt es neun Regelgeschosse. Letztere folgen einem zweibündigen Aufbau mit Büroflächen und einer klaren Raumdisposition. Aktenaufzüge und eine Rohrpostanlage sorgten in den Hochzeiten des Unternehmens für einen raschen Datenaustausch.
Wiesbaden, Dyckerhoff-Hochhaus, Flugdach über dem Haupteingang (Bild/Titelmotiv: Kristin Schubert)
Eingelegt und geschnitten
Die Boden- und Wandbeläge sowie die Fensterbänke wurden in jedem Geschoss – insbesondere in den Vorräumen der Aufzüge – individuell ausgeführt und in das Gestaltungssystem einbezogen. Hier wurden Betonwerksteine mit unterschiedlichen Zuschlägen und eingelegten „Schnittlingen“ (etwa aus Marmor) verbaut, die als Musterflächen für das Dyckerhoff-Repertoire zu verstehen sind. Von verschiedenen Braun- und Grautönen über schwarze Zuschläge bis zu roten, gelben und grünen Nuancen ist alles vertreten. Indem man den Zement jeweils anglich, entstand ein harmonisches Gesamtbild ohne zu starke Kontraste.
Dass Neufert die Produkte seines Auftraggebers im gesamten Hochhaus so konsequent und plakativ einsetzte, war ebenso logisch wie genial: Der eigene Verwaltungssitz verdeutlicht werbend die vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten der Dyckerhoff’schen Zemente in Konstruktion, Fassadengestaltung und Innenausbau – eine „architecture parlante“ der Nachkriegsmoderne.
Wiesbaden, Dyckerhoff-Hochhaus, Blick ins großflächig verglaste Erdgeschoss (Bild: Robinson Michel, 2023)
Literatur
Dorn, Ralf u. a., Ernst Neufert 1900–1986. Leben und Werk des Architekten, Darmstadt 2011.
Heymann-Berg, Joachim P./Netter, Helmut/Netter, Renate (Hg.), Ernst Neufert. Industriebauten, Wiesbaden, Berlin/Hannover 1973.
Prigge, Walter (Hg.), Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, Bauhaus Dessau, 7. August bis 15. Oktober 1999, Frankfurt am Main 1999.
Schubert, Kristin, Neues von Dyckerhoff. Der industrie- und technikdenkmalpflegerische Blick auf Werk und Unternehmen, in: Denkmalpflege und Kulturgeschichte 2020, 4, S. 4–11.
Wiesbaden, Dyckerhoff-Hochhaus, Oberflächengestaltung (Bild: Robinson Michel, 2023)
Download
Bonusbeitrag
Inhalt
Der Bedeutungsüberschuss
Sonja Broy über Türme als symbolische Orte und ihre Rolle in der modernen Stadt.
Die Väter der Fernsehtürme
Jonathan Palmer-Hoffman über die Fernsehturm-Prototypen von Erwin Heinle und Fritz Leonhardt.
Fathers of the Teletowers (English Version)
Jonathan Palmer-Hoffman on the prototypes of the teletowers by Erwin Heinle and Fritz Leonhardt.
Ein Wasserturm als Mahnmal
Klemens Czurda über den Wasserturm von Vukovar, der eine neue Nutzung fand.
Der Zementriese
Robinson Michel über das Wiesbadener Dyckerhoff-Hochhaus, das sich selbst als Werbeträger der Baustoffindustrie präsentierte.
Eine Rotationshyperboloidkonstruktion
Martin Hahn über das mathematische Prinzip hinter dem Möglinger Wasserturm und was das Ganze mit Moskau zu tun hat.
Der Naturzugkühler
Haiko Hebig über Landmarken einer vergangenen Energiepolitik.