Sonja Broy im Gespräch über symbolische Orte (24/1)
Eine Stadt, in der alle Bauten gleich hoch sind? Für Sonja Broy wäre das nur eines, „langweilig“. Für eine Publikation hat sich die Journalistin und Stadtentwicklerin gerade intensiv mit der Frage beschäftigt, wie symbolische Orte entstehen und im urbanen Raum genutzt werden können. Das kann der Bolzplatz aus der Jugend sein, der Waschsalon als Keimzelle eines soziokulturellen Zentrums oder der Förderturm als Wahrzeichen mit Plus. Denn im übertragenen und im ganz konkreten Sinn spielt Höhe dabei eine entscheidende Rolle, betont Broy im Gespräch mit moderneREGIONAL – und berichtet begeistert von einem wiederbelebten Turm in Nordrhein-Westfalen.
Kultur im Turm – der Bahnhofsturm von Oberhausen, grafisch als Freizeitort in Szene gesetzt (Bild: kitev)
Turmuhr
Wer je für einen Kirchenbau verantwortlich war, weiß aus leidvoller Erfahrung: Ob das Dach undicht ist oder Wasser im Keller steht, nichts führt zu so vielen erzürnten Anrufen wie eine defekte Turmuhr. Diesen Effekt nutzte die Initiative kitev (Kultur im Turm e. V.) für eine künstlerische Intervention mit Mehrwert. 2010 wurde die Uhr am Bahnhofsturm in Oberhausen nicht nur repariert, sondern auch digital und vielfarbig aufgewertet. Damit wollte man ein positives Zeichen für Vielfalt setzen und zugleich auf die kreative Arbeit im Turminneren aufmerksam machen. Für Broy ist dieses Projekt ein perfektes Beispiel für ein Symbol, das sie als Ort „mit Bedeutungsüberschuss“ definiert. Dafür brauche es schon eine Gruppe von Akteur:innen, denn „je größer die Gruppe, desto wirkmächtiger“ ist es.
In Oberhausen waren es Ateliers Stark und Tank-FX, die 2006 die Symbolmacht des leerstehenden Bahnhofsturms erkannten und die Initiative kitev gründeten. Das zugehörige Empfangsgebäude hatte man 1934 nach den Entwürfen der Reichsbahnarchitekten Herrmann und Schwingels fertiggestellt. Für die besondere Kombination aus Wasser- und Uhrenturm gab es nur wenige Parallelen, zwei davon im benachbarten Dortmund. Die stark verändernden Einbauten der Nachkriegszeit wurden mit den Wettbewerben Emscher Park 1990 rückgeführt und die Empfangshalle neu in Wert gesetzt. Nach und nach zog auch Kunst ein, erst auf dem Museumsbahnsteig, mit der Initiative kitev auch in den 2013 sanierten Turm.
„OB_RHAUSEN “ – der fehlende Leuchtbuchstabe „E“ pausierte 2017, frisch repariert, auf dem Parkhausdach in der Innenstadt (Bild: kitev)
Parkd_ck
„Besonders wirkungsvoll“ sei es, „wenn der symbolische Ort, der Turm, im Nutzen ist und einen Nutzen stiftet“, so das Ergebnis der Untersuchungen von Sonja Broy mit dem Regionalplaner Thomas Kuder (vhw, Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung). Gerade in strukturschwachen Gebieten, in denen keine klassischen historischen Stätten vorhanden sind, könne man so erstaunliche Effekte im Quartier erzielen. „Am erfolgreichsten wird es wirklich, wenn die verschiedenen Gruppen zusammenarbeiten – Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft – und sich auch auf ein Experiment einlassen.“ Aus ihrer Erfahrung plädiert Broy daher für einen Perspektivwechsel – man müsste die vorhandenen „Förderkulissen“ künftig weniger starr handhaben und langfristiger anlegen, um nachhaltig arbeiten zu können.
In Oberhausen hat die kitev den Perspektivwechsel zur Kunstform erhoben und nutzt dazu immer wieder die Dächer der Stadt: 2017 ging ein „E“ auf Wanderschaft. Eigentlich gehört der Großbuchstabe auf ein Hochhaus aus dem Jahr 1961. In der Otto-Dibelius-Straße sitzt das Hans-Böckler-Berufskolleg, an dessen Fassade eine Leuchtschrift verkündet: „Oberhausen – die Wiege der Ruhrindustrie“. Streng genommen, stand dort lange nur „Ob_rhausen“, denn das E blieb dunkel. Um diesen Missstand zu beheben, ergriff eine Gruppe junger Flüchtlinge, angeleitet von kitev, die Initiative. Die Stadtwerke stellten einen Steiger zur Verfügung, der das E vom Dach holte. Als die Jugendlichen den Buchstaben repariert hatten, suchten sie mit ihm unterschiedliche Orte im städtischen Raum auf und setzten sich mit diesen auseinander, bevor der vollständige Schriftzug wieder am Hochhaus aufleuchten durfte.
Freie Universität Oberhausen – mit dem „Vielfalt“-Schriftzug auf dem Dach des Hochhauses in der Friedrich-Karl-Straße (Bild: kitev)
Oberhaus
Für die staatlichen Förderprogramme müsste man dringend Schwellen abbauen, fordert Broy. Damit sich die Zivilgesellschaft symbolischen Orten nähern und diese aktivieren kann, „ohne sofort von den bürokratischen Hindernissen erschlagen zu werden.“ In diesem Geist hat die kitev auch eines ihrer jüngsten Projekte konzipiert. Das „Oberhaus“, einen Wohnturm in der Friedrich-Karl-Straße von Oberhausen, prägt seit 2018 – als die Steinkohleförderung eingestellt wurde – der Schriftzug „Vielfalt ist unsere Heimat“. Im Gebäude lädt die Freie Universität Oberhausen zu Kursen von allen für alle: von Yoga bis Siebdruck. Als Corona über das dreijährige Projekt hereinbrach, ging man mit der Arbeit kurzerhand an die frische Luft. Die Finanzierung der Freien Universität lief im Herbst 2023 aus (ein Film soll die Arbeit noch 2024 dokumentieren), aber man hofft auf einen neuen Förderzyklus, um rund um die Türme von Oberhausen weiter kreativ und sozial wirken zu können.
Das Gespräch führte Karin Berkemann.
Hören Sie das ganze Gespräch
Von der Bahnhofsuhr bis zum Waschsalon, vom Förderturm bis zum Bolzplatz: Jede moderne Stadt hat ihre eigenen Symbole, die in der Planung positiv genutzt werden können, sagt Sonja Broy. Die Journalistin und Stadtentwicklerin spricht mit moderneREGIONAL über von oben gesteuerte, von unten initiierte oder einfach wild gewachsene Orte mit Bedeutungsüberschuss. (kb, 16.1.24)
Das Gespräch führte Karin Berkemann am 11. Januar 2024 (DOI)
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Bonusbeitrag
Inhalt
Der Bedeutungsüberschuss
Sonja Broy über Türme als symbolische Orte und ihre Rolle in der modernen Stadt.
Die Väter der Fernsehtürme
Jonathan Palmer-Hoffman über die Fernsehturm-Prototypen von Erwin Heinle und Fritz Leonhardt.
Fathers of the Teletowers (English Version)
Jonathan Palmer-Hoffman on the prototypes of the teletowers by Erwin Heinle and Fritz Leonhardt.
Ein Wasserturm als Mahnmal
Klemens Czurda über den Wasserturm von Vukovar, der eine neue Nutzung fand.
Der Zementriese
Robinson Michel über das Wiesbadener Dyckerhoff-Hochhaus, das sich selbst als Werbeträger der Baustoffindustrie präsentierte.
Eine Rotationshyperboloidkonstruktion
Martin Hahn über das mathematische Prinzip hinter dem Möglinger Wasserturm und was das Ganze mit Moskau zu tun hat.
Der Naturzugkühler
Haiko Hebig über Landmarken einer vergangenen Energiepolitik.