von Martin Hahn (24/1)

Auf der Fahrt nach Stuttgart grüßt schon von Weitem der Fernsehturm als ein Wahrzeichen der Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Seine dominierende Rolle ist unbestritten, doch nähert man sich der schwäbischen Metropole von Norden, macht eine weitere Landmarke auf sich aufmerksam: Etwas weniger mächtig und damit leiser (aber ebenso elegant), wird hier die Region Stuttgart angekündigt: Der Wasserturm der kleinen Gemeinde Möglingen im Kreis Ludwigsburg steht direkt an der Autobahn A 81 und wird täglich von tausenden Reisenden gesehen.

Möglingen, Wasserturm, links: in der Landschaft des Langen Felds (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (LAD), Imre Boros, 2023); rechts: in der Bauphase (Bild: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg, Albrecht Brugger)

Möglingen, Wasserturm, links: in der Landschaft des Langen Felds (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (LAD), Imre Boros, 2023); rechts: in der Bauphase (Bild: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg, Albrecht Brugger)

Gehobene Rotation

Auffallend ist vor allem der Turmschaft als Rotationshyperboloidkonstruktion. Für Ingenieur:innen und Architekt:innen geläufig, dürfte diese Bauweise die meisten Interessierten allenfalls an höhere Schulmathematik erinnern. Viele werden mit diesem Begriff aber rein gar nichts anfangen können. Ein Hyperboloid – so klärt Wikipedia auf – ist „im einfachsten Fall eine Fläche, die durch Rotation einer Hyperbel um eine ihrer Achsen entsteht“.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert verwendeten Architekt:innen und Ingenieur:innen dieses Prinzip bei Turmbauten, insbesondere bei Kühl- oder Wassertürmen. Wohl erstmals eingesetzt wurde es 1906 beim Wasserturm in der ukrainischen Stadt Nikolaev – nach dem 1896 eingereichten Patent des Ingenieurs Vladimir Gregorjewitsch Šuchov aus Moskau. Die durchbrochene Stahlkonstruktion besticht bis heute durch Leichtigkeit und zugleich Festigkeit und ist als Baudenkmal klassifiziert.

Möglingen, Wasserturm (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (LAD), Imre Boros, 2023)

Möglingen, Wasserturm, gitterförmiges Betonfachwerk am Schaft (Bild/Titelmotiv: LAD, Imre Boros, 2023)

400 Kubikmeter

In den 1960er Jahren kommt die optisch ansprechende Rotationshyperboloidkonstruktion auch in Möglingen zum Einsatz, allerdings in Stahlbeton: Der Schaft wird im unteren Bereich fachwerkartig aufgelöst ist, um die Bauweise anschaulich darzulegen und dem Ganzen eine gewisse Leichtigkeit und Eleganz zu verleihen. Mit dem Turm sollte die stetig wachsende Gemeinde im Stuttgarter Umland in Spitzenzeiten mit ausreichend Trinkwasser versorgt werden. Die 30 Meter hohe Konstruktion liegt direkt an der Leitung der Bodenseewasserversorgung und hat ein Fassungsvermögen von 400 Kubikmetern.

Über dem Wasserbehälter findet sich eine Aussichtsplattform mit flachem, kupfergedecktem Kegeldach. 156 Stufen wollen erklommen sein, um das Rundumpanorama auf das sogenannte Lange Feld genießen zu können. Als Alternative gibt es auch einen Aufzug. Für die Planung zeichneten der Stuttgarter Architekt Richard Kesseler und der Ingenieur Franz Cenek verantwortlich, die Ausführung übernahm ab 1962 die Baufirma von Ludwig Bauer. Am 10. Dezember 1964 wurde der Möglinger Wasserturm eingeweiht. In den Jahren 1996, 2001 und 2007 erfolgten vor allem technische Erneuerungen.

Möglingen, Wasserturm (Bilder: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (LAD), Imre Boros, 2023)

Möglingen, Wasserturm, links: Schaft; rechts: Aufgang im Inneren (Bild: LAD, Imre Boros, 2023)

Seit dem Spätmittelalter

Wassertürme sind eine besondere Form von Hochbehältern, die vor allem dort angewandt wird, wo der Höhenunterschied eines Erdbehälters zu gering wäre. Das hier gespeicherte Wasser sorgt für den Druck in der Wasserleitung. Hochbehälter sind sowohl in der Trinkwasserversorgung im Einsatz als auch für Wasserspiele in Schlössern, als Löschwasserversorgung in Fabriken oder zur Speicherung von Betriebswasser für Dampflokomotiven.

Die Geschichte dieser Baugattung reicht bis ins Spätmittelalter zurück: Ab etwa 1416 versorgte die Wasserkunst am Roten Tor in Augsburg – als wahrscheinlich ältestes bekanntes Wasserwerk Mitteleuropas – die Reichsstadt mit frischem Nass und wurde 2019 zur UNESCO-Welterbestätte geadelt. Ein wichtiges Beispiel der Barockzeit ist das 1765 in Betrieb genommene, untere Wasserwerk in Schwetzingen, das trotz seines noch aktiven Behälters kaum als Wasserturm wahrgenommen wird. Es versorgt die Wasserspiele im dortigen Schlossgarten.

Nikolaev, Wasserturm (Bild: Yara-shark, CC BY SA 3.0, 2009); Möglingen, Wasserturm (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (LAD), Imre Boros, 2023)

links: Nikolaev, Wasserturm von 1906, wohl die erste Anwendung der Rotationshyperboloidkonstruktion (Bild: Yara-shark, CC BY SA 3.0, 2009); Kornwestheim, Rangierbahnhof, Wasserturm von 1912, nur 2,5 Kilometer Luftlinie von Möglingen entfernt (Bild: LAD, Imre Boros, 2023)

In Boomzeiten

Wassertürme haben vielfältigste Formfindungen und Konstruktionsweisen erfahren, insbesondere in der Boomzeit des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit der Industrialisierung und der rasanten Verstädterung sind sie für die öffentliche Wasserversorgung notwendig geworden, genauso wie für den Betrieb der Dampflokomotiven als Motor des modernen Verkehrswesens. Nur 2,5 Kilometer Luftlinie vom Möglinger Wasserturm entfernt, liegt im benachbarten Kornwestheim ein typischer Vertreter dieser Baugattung. Der 1912 mit dem Landesgüter- und Rangierbahnhof erbaute Wasserturm – er verfügt über 1.100 Kubikmeter Fassungsvermögen – ist ein solcher zeittypischer Ingenieurbau des frühen 20. Jahrhunderts. Allerorten finden sich vielfältige Zylinder-, Kugel- oder Kelch- und Kegelformen, unter denen Expert:innen die Intze- und Klönne-Behälter unterscheiden.

Die Türme des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind meist in historistischer Architektursprache ausgeführt. Berühmt und zum Wahrzeichen geworden ist beispielsweise der Mannheimer Wasserturm von 1889. Bisweilen verschleiern sie ihre eigentliche Funktion und erinnern eher an Stadtmauer- oder Schlosstürme. In Frankreich, wo die Wassertürme tatsächlich als Château d’eau bezeichnet werden, gehören sie in großer Zahl zum Landschaftsbild. Vielfach kommen hier aber moderne Betonkonstruktionen des 20. Jahrhunderts zum Einsatz, die sich auch in Deutschland durchsetzen.

Möglingen, Wasserturm (Bild: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (LAD), Imre Boros, 2023)

Möglingen, Wasserturm, Blick von der Aussichtsplattform (Bild: LAD, Imre Boros, 2023)

Unter den Schönsten

Weithin sichtbar, ist der Möglinger Wasserturm ein überaus sprechendes Bauzeugnis. Er bildet nicht nur ein markantes Wahrzeichen der Gemeinde und der Region, sondern dokumentiert auch anschaulich den gestalterischen Anspruch, der dieser wichtigen Versorgungseinrichtung beigemessen wurde. Durch die ästhetisch anspruchsvolle Rotationshyperboloidkonstruktion und die fachwerkartige Auflösung des Schaftes wurde hier eine äußerst gelungene Lösung dieser Bauaufgabe verwirklicht, die dem Turm ein elegantes Erscheinungsbild verleiht und ihn einzigartig macht. Der Ingenieurbauführer Baden-Württemberg hat ihn als einen der schönsten modernen Wassertürme betitelt. Im September 2013 wurde er in die Denkmalliste aufgenommen als eine moderne Landmarke – mit Eleganz und einem komplizierten Namen.

Literatur

Engelsmann, Stephan u. a., Ingenieurbauführer Baden-Württemberg, Berlin 2019.


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Bonusbeitrag

Inhalt

Der Bedeu­­tungs­­überschuss

Der Bedeu­­tungs­­überschuss

Sonja Broy über Türme als symbolische Orte und ihre Rolle in der modernen Stadt.

Die Väter der Fernsehtürme

Die Väter der Fernsehtürme

Jonathan Palmer-Hoffman über die Fernsehturm-Prototypen von Erwin Heinle und Fritz Leonhardt.

Fathers of the Teletowers (English Version)

Fathers of the Teletowers (English Version)

Jonathan Palmer-Hoffman on the prototypes of the teletowers by Erwin Heinle and Fritz Leonhardt.

Ein Wasserturm als Mahnmal

Ein Wasserturm als Mahnmal

Klemens Czurda über den Wasserturm von Vukovar, der eine neue Nutzung fand.

Der Zementriese

Der Zementriese

Robinson Michel über das Wiesbadener Dyckerhoff-Hochhaus, das sich selbst als Werbeträger der Baustoffindustrie präsentierte.

Eine Rotations­hyperboloid­konstruktion

Eine Rotations­hyperboloid­konstruktion

Martin Hahn über das mathematische Prinzip hinter dem Möglinger Wasserturm und was das Ganze mit Moskau zu tun hat.

Der Naturzugkühler

Der Naturzugkühler

Haiko Hebig über Landmarken einer vergangenen Energiepolitik.

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