von Jonathan Palmer-Hoffman (24/1) >> English version

Kein Turm verkörpert den technologischen, politischen und sozialen Fortschritt und die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts so sehr wie ein Fernsehturm. Waren die ersten Funktürme im späten 19. Jahrhundert noch Radioantennen, nahmen sie sich schon bald den Eiffelturm der Weltausstellung zum Vorbild und entwickelten eine eigene Typologie: den Fernmeldeturm als Ikone. Bereits im frühen 20. Jahrhundert entstanden so innovative Eisen- und Stahlkonstruktionen, doch erst in den 1950er Jahren errichtete man den ersten Fernsehturm.

Fernsehtürme, Werbegrafik von Bosch, 1968 (Bild: historische Werbung)

Fernsehtürme, Werbegrafik von Bosch, 1968 (Bild: historische Werbung)

Fernsehtürme

Für die Ausstellung “Cold War Modern”, die 2008 im Victoria Albert Museum zu sehen war, haben die Kurator:innen Jane Pavitt und David Crowley den englischen Begriff “teletower” geprägt: Ein solcher Turm ist (für Radio, Fernsehen usw.) mit Einrichtungen für Besucher:innen (Aussichtsplattformen, Restaurants) verbunden oder umfasst diese implizit. In der Regel (bis auf bemerkenswerte Ausnahmen) entsteht ein Fernsehturm als Stahlbetonkonstruktion. Seine Wurzeln lassen sich eindeutig bis ins geteilte Deutschland des Kalten Kriegs zurückverfolgen, wo sich die ästhetischen und typologischen Formen ausbildeten und verbreiteten – unabhängig von politischen oder ideologischen Grenzziehungen.

Stuttgart

Der 1956 fertiggestellte Stuttgarter Fernsehturm wurde als Stahlbetonkonstruktion errichtet, enthielt eine Aussichtsplattform und ein Restaurant. Entworfen vom Architekten Erwin Heinle und vom Ingenieur Fritz Leonhardt, gilt er als Prototyp dieser neuen Baugattung. Erstaunlicherweise hatte Leonhardt selbst darauf gedrängt, den ursprünglichen Plan in einen Betonbau umzuwandeln – statt “einem Stahlgittermast, der schlecht zu dem schönen Landschaftsbild dieser Stadt gepaßt hätte”.

Nach dem Stuttgarter Projekt widmeten sich Heinle und Leonhardt unmittelbar einem niedrigeren, aber markanten Turm für die Deutsche Industriemesse in Hannover. Dessen Bau war weniger auf die Rundfunkübertragung als vielmehr auf Tourist:innen hin ausgerichtet: Er verfügte über zwei Röhren und einen Außenaufzug, was sich für künftige Projekte als vorausschauend erwiesen hat. Durch die Entwicklung der direktionalen drahtlosen Übertragung mussten die Türme an ihren Außenseiten nun große Parabolspiegel tragen, um die Mikrowellenstrahlung empfangen zu können. Obwohl dieser Schritt Stuttgart auf den lokalen Rundfunk und das lokale Fernsehen beschränken sollte, konzipierte man neuere Fernsehtürme derart, dass sie die erforderlichen Schüsseln aufnehmen konnten.

Moskau, Fernsehturm, 1964 (Bild: mos.ru, CC BY SA 4.0); Stuttgart, Fernsehturm (Bild: Julian Herzog, CC BY SA 3.0, 2013)

Moskau, Ostinako-Turm, 1964 (Bild: mos.ru, CC BY SA 4.0); Stuttgart, Fernsehturm (Bild: Julian Herzog, CC BY SA 3.0, 2013)

Gen Osten

Das Duo sollte in der Folgezeit viele Fernsehtürme in ganz Westdeutschland entwerfen. Doch interessanterweise wurde Leonhardt etwas mehr als ein Jahrzehnt nach der Fertigstellung des ersten Turms in Stuttgart als Berater tätig: für den höchsten Fernsehturm und das erste freistehende Bauwerk, welches das Empire State Building in den Schatten stellen sollte – den Ostankino-Turm in Moskau. Wie es dazu kam, dass ein westdeutscher Ingenieur an einem sowjetischen Turm mitwirkte, ist eine andere Frage. Aber es ist unbestreitbar, dass diese Zusammenarbeit die in Stuttgart festgelegten Formen zuspitzte, um einen eher kosmischen Turm wie ein Raketenschiff zu formen.

Zurück in Deutschland, entwarfen oder berieten Heinle und Leonhardt in den 1960er Jahren bei Türmen in Hamburg und (wiederum jenseits des Eisernen Vorhangs) in Ost-Berlin. Auch diese Projekte zeigen eine außergewöhnliche Entwicklung der Turmkanzel, die vom Stuttgarter “Krähennest” zu einer Reihe von gestapelten Ringen in Hamburg und zu einer riesigen facettierten Kugel in Berlin führt.

Typisch

Gleichzeitig war das Duo am standardisierten “Typenturm” aus Beton beteiligt, der sich über ganz Westdeutschland ausbreiten sollte: Fernmeldetürme, die von der Bundespost in Auftrag gegeben wurden, bei denen der Aufenthalt von Besucher:innen nicht vorgesehen war und die sich mit den wachsenden Signalnetzwerken über das ganze Land ausbreiten sollten. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Sonder- oder Spezialtürmen, die für einen bestimmten Standort als städtisches Wahrzeichen entworfen wurden, folgten die Typentürme einem grundlegenden Muster. Sie wurden auf Bergen, in Wäldern und außerhalb von Städten errichtet – in einer Form, die über die Wiedervereinigung hinaus noch in den frühen 1990er Jahren Bestand haben sollte.

links: Berlin, Fernsehturm (Bild: Jonathan Palmer-Hoffman); rechts: Nürnberg, Fernsehturm (Bild: Wladyslaw, CC BY 3.0)

Berlin (Ost), Fernsehturm (Bild: Jonathan Palmer-Hoffman); Nürnberg, Fernsehturm (Bild: Wladyslaw, CC BY 3.0)

Das Ei

In den 1970er Jahren überquerte das Duo den Atlantik und beriet beim CN-Turm in Toronto, der Moskau den Titel des höchsten Turms streitig machen sollte und zudem über Außenaufzüge verfügte. Zurück in Deutschland, entwarfen der Architekt und der Ingenieur Fernsehtürme für Kiel, Mannheim, Koblenz und Frankfurt. Während diese Formen eine interessante Entwicklung der Turmtypologie seit Stuttgart darstellten, wurde 1980 in Nürnberg – mit einem eiförmigen Bauwerk, das an “Peter Henleins eiförmige Taschenuhr” erinnerte – eine verblüffende Wende eingeleitet.

In Nürnberg war ursprünglich vorgesehen, die gesamte Turmkanzel mit einer durchlässigen Kunststoffschale zu umhüllen. Obwohl diese teilweise weggelassen wurde, bilden die sich verjüngenden, scheibenähnlichen Plattformen immer noch ein Ei. Dabei ist es interessant, was Leonhard selbst über seine Entwürfe formulierte: “Die Turmform entstand ganz aus den für Ingenieure typischen rationalen Überlegungen, wie die Aufgabe mit einem Minimum an Aufwand zu erfüllen sei.” Wie wir sehen können, war es alles andere als das!

Almaty-Turm/Sowjetunion (Bild: Gulim 8, CC BY SA 4.0, 2019); Guishan-Turm/China (Bild: 汮汐, CC BY SA 4.0, 2020)

Almaty-Turm/Kasachstan (Bild: Gulim 8, CC BY SA 4.0, 2019); Guishan-Turm/China (Bild: 汮汐, CC BY SA 4.0, 2020)

Weiter gen Osten

In den 1980er Jahren hielten sich Heinle und Leonhardt wieder in der Sowjetunion auf, um am 1982 fertiggestellten Almaty-Turm in der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik mitzuwirken. Das Bauwerk bildet nur dem Namen nach einen Fernsehturm: Es ist nicht nur für die Öffentlichkeit gesperrt, sondern auch aus Stahl errichtet und mit Metallplatten beschichtet, um den Anschein von Beton zu erwecken. Ursprünglich dem Stuttgarter Entwurf entlehnt, sollte damit Stahl in Zentralasien wieder zum Material der Wahl werden. Schließlich reisten der Architekt und der Ingenieur weiter nach Osten, um beim Bau eines frühen chinesischen Fernsehturms zu beraten – dem Guishan-Turm in Wuhan, der 1986 fertiggestellt wurde. Es handelt sich um eine fast identische Nachbildung des ersten Stuttgarter Turms, nur höher. Dies löste eine Turm-Manie im Land aus, da mit dem Wirtschaftsboom fast jede große chinesische Stadt ein solches Wahrzeichen erhielt.

Zurück in Deutschland, entstand sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR eine große Zahl von Fernsehtürmen, die auch nach der Wiedervereinigung fortbestehen sollten. Viele von ihnen folgten den Typentürmen nach dem Vorbild von Heinle und Leonhardt. Aber in Deutschland, Österreich und der Schweiz errichtete man auch einige Sondertürme mit champagnerfarbenen, asymmetrisch gestapelten, dramatisch gekrümmten und parabolisch geschwungenen Formen. Doch im Grunde verdanken alle diese Fernsehtürme in der Region, in Europa und in der ganzen Welt ihre unterschiedlichen Ausprägungen den ersten erfolgreichen Türmen, die Telekommunikation mit Einrichtungen für Besucher:innen verbanden – entworfen von Erwin Heinle und Fritz Leonhardt.

Brackenheim, Typenturm (Bild: Zonk43, CC BY SA 4.0); Toronto, CN-Turm (Bild: Maksim Sokolov, CC BY SA 4.0)

Brackenheim, Typenturm (Bild: Zonk43, CC BY SA 4.0); Toronto, CN-Turm (Bild: Maksim Sokolov, CC BY SA 4.0)

Literatur und Quellen

Böttger, Matthias/Heilmeyer, Florian/Borriers, Friedrich von (Hg.), Fernsehtürme. 8.559 Meter Politik und Architektur, Berlin 2010.

Crowley, David/Pavitt, Jane (Hg.), Cold War Modern. Design 1945–1970, London 2008.

Heinle, Erwin/Leonhardt, Fritz, Türme. A Historical Survey, New York 1989 (hieraus auf S. 222 und 236 auch die Zitate im obigen Beitrag).

Janberg, Nicolas, Fernsehtürme, auf: Structurae.

Pahl, Burkhard, Technische Türme, auf: Indumap.


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Bonusbeitrag

Inhalt

Der Bedeu­­tungs­­überschuss

Der Bedeu­­tungs­­überschuss

Sonja Broy über Türme als symbolische Orte und ihre Rolle in der modernen Stadt.

Die Väter der Fernsehtürme

Die Väter der Fernsehtürme

Jonathan Palmer-Hoffman über die Fernsehturm-Prototypen von Erwin Heinle und Fritz Leonhardt.

Fathers of the Teletowers (English Version)

Fathers of the Teletowers (English Version)

Jonathan Palmer-Hoffman on the prototypes of the teletowers by Erwin Heinle and Fritz Leonhardt.

Ein Wasserturm als Mahnmal

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Klemens Czurda über den Wasserturm von Vukovar, der eine neue Nutzung fand.

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Robinson Michel über das Wiesbadener Dyckerhoff-Hochhaus, das sich selbst als Werbeträger der Baustoffindustrie präsentierte.

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