von Peter Liptau (22/2)
Über der Stadt Ulm, auf dem Eselsberg und zumindest ursprünglich mitten im Grünen steht das Bundeswehrkrankenhaus, das von 1974 bis 1979 durch das Büro Heinle, Wischer und Partner errichtet wurde. Insbesondere der Architekt Robert Wischer (1930–2007) war es, der nicht nur das Haus in Ulm nach seinem Prinzip des „zukunftsoffenen Krankenhauses“ plante. Es sollte jederzeit flexibel auf den Fortschritt reagieren können, ohne dass große An- und Umbauten nötig sind. Diese Strukturen haben sich in den letzten Jahren in der Sanierungsphase, die ebenfalls vom Büro Heinle, Wischer und Partner durchgeführt wurde, als nützlich erwiesen.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Schema der Gebäudestruktur (Bild: Heinle, Wischer und Partner)
Das zukunftsoffene Krankenhaus
Robert Wischer wollte ursprünglich Medizin studieren – und wurde Architekt. Dies sind selbstredend beste Voraussetzungen für einen Krankenhausbauer. Für diese gemeinwesenorientierten, rund um die Uhr geöffneten Hochleistungsarchitekturen braucht es einen gesundheitsfördernden Lebensraum. Dennoch gab es für Wischer bis dato kein überzeugendes Konzept für zukunftsoffene Krankenhäuser, deshalb entwickelte er eine eigene Theorie.
Schon der römische Architekturtheoretiker Vitruv habe gefordert: Gebäude müssen ebenso langfristig brauchbar wie dauerhaft in Material und Ästhetik sein. Wischer ergänzte die Funktionsoffenheit. Insbesondere ein Krankenhaus folge vier Kriterien: 1) Der Ort ist dauerhaft und bleibt über Jahrhunderte bestehen. 2) Die konstruktive, elementare, technische und logistische Struktur ist langfristig, sie erstreckt sich über 50 bis 100 Jahre. 3) Der raumbildende Ausbau und die ihn ergänzende technische Ausstattung sind für 20 bis 40 Jahre von mittelfristiger Gültigkeit. 4) Bewegliche Dinge können alle 5 bis 30 Jahre ausgewechselt werden.
Vor diesem Hintergrund plante Wischer seine eigenen Krankenhäuser. In Ulm wurden die Systeme für die technischen Installationen und den Innenausbau nahezu unabhängig in eine stählerne Tragstruktur eingesetzt. Für diese konstruktive Innovation erhielt das Büro Heinle, Wischer und Partner 1979 den Europäischen Stahlbaupreis.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Lichthof (Bild: Peter Liptau)
Auf dem grünen Hügel
Als das Land Baden-Württemberg die Medizinisch-Naturwissenschaftliche Hochschule in Ulm plante, entschied der Bundestag, dass hier auch ein Bundeswehrkrankenhaus mit 620 Betten entstehen sollte. Letzteres war zugleich als Lehrkrankenhaus für die Universität gedacht, das etwa ein Drittel seiner Kapazität für die Behandlung von Zivilist:innen bereitstellte.
Das Ensemble sollte sich „unaufdringlich in die Natur“ einfügen und „adäquat und in solider, zurückhaltender, im guten Sinne konservativer Gestaltung“ ausfallen. Auch deshalb wurde die Krankenhaus-Cafeteria zum beliebten Ausflugsziel für Spaziergänger:innen, die den Weg ins Naherholungsgebiet auf sich nahmen. Von Vorteil war und ist dabei natürlich der unverbaute Weitblick, der bei guten Wetterverhältnissen bis zu den Alpen reicht.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Außeninstallation samt Grünflächengestaltung des Künstlers Kurt Georg Pfahler (Bild: Peter Liptau)
Jedem Zimmer sein Kunstdruck
Die Kunst am Bau sollte „die Menschen ansprechen, sie nachdenklich machen oder auch aufmuntern“. Dazu gehört in Ulm eine große Außeninstallation samt Grünflächengestaltung des Künstlers Kurt Georg Pfahler. Hinzu kommt die hochwertige Ausstattung der Innenräume: Plastiken des Künstlers Alfonso Hüppi im Lichthof sowie eine umfassende Kunstsammlung die es ermöglicht, dass jedes Krankenzimmer einen originalen Kunstdruck erhält.
Um das Bettenhochhaus herum gliedern sich – eingebettet in die Grünanlage, durch die Geländemodellierung teils unsichtbar – niedrigere Bauten für Ambulanzen, OP-Bereiche, Sozialräume, Labor, Bettenzentrale usw. Mit dieser Aufteilung reagierte Wischer darauf, dass bei solchen hoch technisierten Funktionsbauten mit einem höheren Anpassungsbedarf zu rechnen ist. Man wollte eventuelle An- und Umbauten vereinfachen und hielt dafür prophylaktisch Freiflächen bereit. Darauf befand sich u. a. eine Sportanlage für Soldat:innen, aber auch für die Patient:innen.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Lichthof (Bild: privat)
Im Luftraum
Die Pflegestationen befinden sich allesamt im Bettenhochhaus, wo mit weniger Anpassungsnotwendigkeit zu rechnen ist. Den Mittelpunkt bildet der Eingangsbereich mit seinem Lichthof als verbindendes Element: Mehr einem botanischen Garten als einem Krankenhausfoyer gleichend, betritt man das Haus auf Ebene 0. Hier erschließt sich ein glasgedeckter Luftraum, der sich nach unten bis zur Ebene -1 erstreckt, wo die meisten Funktionen und Ambulanzen liegen. Im Lichthof der Ebene -1, eingebettet in reichhaltiges Grün, gliedern „brutalistische, angeschrägte Kuben“ einen langen Raum. Über diesen ‚Graben‘ verlaufen mehrere Brücken, welche die Ebene 0 des Haupthauses mit dem Nebengebäude der Fachabteilungen verbinden.
Das Bundeswehrkrankenhaus zeigt sich bis heute in seiner ursprünglichen Gestaltung: Die hinterlüftete Vorhangfassade mit eingestellten Brüstungselementen wurde seinerzeit mit bronzefarben eloxierten Aluminiumplatten verkleidet. Sie sind vor den Krankenzimmern so niedrig gehalten, dass die Patient:innen auch aus dem Bett heraus sehen können, was sich draußen auf Bodenhöhe abspielt. Vor der Verglasung liegt der Sonnenschutz aus Aluminiumlamellen, die automatisch bedient und von den Zimmern aus separat gesteuert werden können. In den vollklimatisierten Räumen lassen sich aus psychologischen Gründen einzelne Fensterflügel öffnen. Die Fassadenaufteilung selbst ergibt sich aus dem Raster der inneren Tragstruktur.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Fassadenstruktur mit Sonnenschutz (Bild: Peter Liptau)
Streng nach dem Raster
In Ulm folgt der Aufbau den von Wischer proklamierten Prinzipien des „zukunftsoffenen Krankenhauses“: 1) Das Konstruktionssystem dient als tragende Struktur in einem dreidimensionalen, einheitlichen Raster mit minimalen baulichen Bindungen (Stützen, Aussteifungswände, Schächte). 2) Das Ausbausystem verfügt über verschiedene Variationsmöglichkeiten (Wand, Decke, Fußböden). 3) Das technische System für alle räumlichen Funktionen gestattet künftige Änderungen und ein entflochtenes Ordnungssystem – beispielsweise durch adaptive Energieanschlüsse.
Das Ausbausystem im Innern beruht auf einem Raster von 120 Zentimetern. Alle Elemente sind ein Vielfaches oder ein Teil davon (60 Zentimeter, 30 Zentimeter, 240 Zentimeter etc.). Auch die Raster aller tragenden Stützen sind identisch. In den Flachbauten wurden leicht zu versetzende Elemente aus kunststoffbeschichteten Stahlblechen eingesetzt, da mit einer dynamischeren Nutzung zu rechnen ist.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Schema der Installationen (Bild: Heinle, Wischer und Partner)
Stützen und Schächte
In den Untergeschossen 5 bis 2 finden sich Stützen, Wände und Decken aus Stahlbeton. Oberirdisch geht die Struktur dann in eine reine Stahlskelettkonstruktion über. Insgesamt birgt das Hochhaus sechs Schächte für die Installationsstränge. In den Geschossen verlaufen die Leitungen horizontal in den abgehängten Decken: Wasser, Abwasser, Heizung für das jeweils darüberliegende Stockwerk, Luft, Elektroinstallation und medizinische Gase. Diese Decken umfassen ein Schienensystem, in das Verkleidungsplatten, Beleuchtungspaneele und technische Energieauslässe eingefügt sind. In den Stationen bestehen die Wandelemente aus 15 Zentimeter starken Gipskartonwänden, die mit Glasfasertapete beschichtet und unterschiedlich gestrichen wurden. Die Fußböden sind nahezu vollständig in PVC ausgeführt, mit Ausnahme der Treppenhäuser, Nassbereiche und Küchen. Für die Nassbereiche der Zimmer wurden vorgefertigte Nasszellen eingesetzt, die am Stück angeliefert werden konnten.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Tresen mit Kleinförderanlage (Bild: privat)
Entlang der Kleinförderanlage
Zur Ausstattung gehören auch modernste technische Einrichtungen. Neben den sammelgesteuerten Aufzügen und einer automatischen, über zwei Kilometer langen Wagentransportanlage (z. B. für Essens- und Wäschewagen) verfügt das Haus auch über eine sogenannte Kleinförderanlage. Hier fahren 80 Metallkörbe mit Eigenantrieb über insgesamt 1700 Meter Schienen zu 32 Stationen. Dies ermöglicht bis heute eine schnelle Übermittlung von Befunden, Laborproben, Blutkonserven etc. Ein Hauptschienenstrang verläuft durch die Haupteingangshalle und macht die Modernität des Hauses damit für die Besuchenden sichtbar. Die bronzefarbenen Platten der Aluminiumfassade finden sich im Inneren wieder – als Verkleidung der Konstruktionsstützen. Auch die Aufzugsschächte zeigen sich in dieser Optik.
Das Gebäude erhielt ein Haustelefon und eine moderne zentrale Computeranlage. Eine Neuerung war außerdem der Patientenruf, der nicht nur über ein Warnlicht im Flur und ein akustisches Signal funktionierte, sondern auch eine Hör-Sprechverbindung zwischen Patient:innen und Pflegepersonal herstellte, u. a. über ein sogenanntes Hör-Sprech-Kissen.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Innenraum, 1981 (Bild: Heinle, Wischer und Partner)
Gerüstet für den Kriegsfall
Selbstverständlich handelt es sich beim Bundeswehrkrankenhaus um ein Militärkrankenhaus, dessen Ausstattung in der Hochzeit des Kalten Krieges auch für den Ernstfall geeignet sein sollte. In den zeitgenössischen Publikationen ist hierzu selbstverständlich nichts zu lesen, dennoch ist das Wissen darüber mittlerweile nach außen gedrungen. Beispielsweise befindet sich unter dem Gebäude eine weitreichende mehrgeschossige Bunkeranlage, wohin man den gesamten Krankenhausbetrieb hätte auslagern können. Zudem wurden der Lichthof und der Eingangsbereich großzügig geplant, um hier im Kriegsfall mehrere hundert Krankenbetten aufzustellen. Durch die Klimaanlage entsteht ein leichter Überdruck, der etwa beim Einsatz chemischer Waffen einer Kontaminierung entgegenwirken sollte.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Pflegestützpunkt, 1981 (Bild: Heinle, Wischer und Partner)
Modernisieren im laufenden Betrieb
Schaut man sich das Bundeswehrkrankenhaus heute von außen an, fällt vor allem der neue Hubschrauberlandeplatz über (nicht auf) dem Dach ins Auge. Dieser ersetzte erst in den vergangenen Jahren den nördlich des Ensembles gelegenen Landeplatz auf Bodenniveau. Ansonsten zeigt sich das Haus weitestgehend in seiner ursprünglichen Gestaltung, was an den langlebigen Materialien liegen mag, aber auch an seiner programmatischen Variabilität. Wesentlich war aber vor allem, dass die Sanierung vom Erbauerbüro Heinle, Wischer und Partner durchgeführt wurde. Die Modernisierungen blieben fast unsichtbar: Wie es Wischer voraussagt hatte, wurde nach knapp 30 Jahren eine Renovierung fällig. Dafür sanierte man die einzelnen Funktionseinheiten nicht an ihrem Standort, sondern ließ sie an neuen Orten neu entstehen. So wurde ein OP-Trakt mitsamt Notfallambulanz im Souterrain errichtet, womit die ehemals dort befindlichen Sozialräume (inklusive einer Kegelbahn!) wiederum andere verschobene Abteilungen aufnehmen konnten.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Pflegestützpunkte und Anmeldungen nach der Sanierung (Bild: Heinle, Wischer und Partner, Yogi Hild)
Die gesamte Sanierungsphase dauerte 20 Jahre und brachte nur sehr geringe Einschränkungen für den laufenden Betrieb. Auch die Gestaltung wurde überarbeitet. Dabei blieb der ursprüngliche Farbkanon erhalten, jedoch durch hellere Farbwerte aufgelockert. Anmeldetresen und Mobiliar wurden passend erneuert. Die öffentlichen Räume wie Eingangsbereich, Cafeteria und auch die Notfallambulanz wurden vom italienischen Designer Giulio Ridolfo in ihren Farbtönen entwickelt. Mit dieser Sanierung folgt das Krankenhaus tatsächlich der Prognose Robert Wischers und erweist sich weiterhin als „zukunftsoffenes Krankenhaus“. Eine Ehre, die einem weiteren bedeutenden Bau seines Büros wohl nicht mehr zuteilwird: Das Krankenhaus der Universität Göttingen, das fast noch konsequenter der Rasterbauweise folgt, steht aktuell wegen angeblich zu hoher Sanierungskosten auf der Abschussliste.
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Grundriss der Ebene 0 (Bild: Heinle, Wischer und Partner)
Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, Nasszelle auf einem Wagen beim Bau 1979
(Bild: Heinle, Wischer und Partner)
Titelmotiv: Bundeswehrkrankenhaus von Westen aus gesehen (Bild: Peter Liptau)
Quellen (Auswahl)
Vom Unikat zum Stadtbaustein – Gedanken zur Entwicklung des Krankenhauses, hg. von Heinle, Wischer und Partner, Stuttgart u. a. 2008.
Teuffel, Gert A. (Bearb.), Bundeswehrkrankenhaus Ulm, hg. von Heinle, Wischer und Partner, Stuttgart 1981.
Archiv des Bundeswehrkrankenhauses, Ulm.
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Bauen und Pflegen für das Wohlbefinden
Jürgen Tietz über die große Verheißung der Moderne.
FACHBEITRAG: Opas Heilbad ist tot!
Oliver Sukrow über Kurorte und ihre Architektur in der Nachkriegsmoderne.
FACHBEITRAG: Das Bundeswehrkrankenhaus in Ulm
Peter Liptau über ein „zukunftsoffenes Krankenhaus“ des Architekten Robert Wischer.
FACHBEITRAG: Brutalismus für Betagte
Gerhard Kabierske über einen Karlsruher Bau von Reinhard Gieselmann.
PORTRÄT: Bahnhof-Apotheke Lübbecke
Karin Berkemann über einen der ersten Bauten der Postmoderne in Deutschland.
INTERVIEW: „Nach wie vor verliebt in dieses Klinikum“
Die Architektin Petra Wörner (wtr) über die Sanierung des Aachener Klinikums.
FOTOSTRECKE: Auf Kur mitten im Krieg
Peter Raaf besuchte Kuranlagen der 1930er bis 1950er Jahre.