von Karin Berkemann (22/2)

Diese Apotheke ist der wahrgewordene Traum jedes Designvictims der späten 1970er Jahre. Als Grundlage dienten die Zeichnungen eines ostwestfälischen Apothekers: Der stilsichere Rainer Krause (1952–2013) konnte 1974/76 die italienische Architektengruppe Superstudio, hier speziell Adolfo Natalini (1941–2020), für den Neubau des Familienbetriebs gewinnen. In Lübbecke störte man sich zunächst an diesem 1979 fertiggestellten Haus, das als eines der ersten Zeugnisse der Postmoderne in Deutschland gilt. Rasch waren Spitznamen wie “Waschmaschine” oder “Pillenbunker” zur Hand. Doch als Zeitschriften wie “Casa Vogue” oder “Schöner Wohnen” positiv über die Bahnhof-Apotheke schrieben, stellte sich bald Stolz ein. Schließlich richtete sich Krause im Dachgeschoss der Stilikone mit seinem neuen Designberatungsbüro ein, dessen Ausstellungen es bis zur Documenta schaffen sollten.

Superstudio, Supersuperficie: Vita, 1970–1972 (Bild: trevor.pott, CC BY NC SA 2.0, via flickr)

Superstudio, Supersuperficie: Vita, 1970–1972 – mit künstlerischen Mitteln gegen die Hochglanzarchitektur (Bild: trevor.pott, CC BY NC SA 2.0, via flickr)

Anti-Architektur

Unter dem Namen Superstudio hatten sich ab 1966 in Florenz mehrere Avantgarde-Architekten zusammengetan, darunter Peter Frassinelli, Alessandro Magris, Roberto Magris, Alessandro Poli, Cristiano Toraldo di Francia und Adolfo Natalini. Ihr Anspruch war kein Geringerer, als eine Persiflage auf die vorherrschende Baukunst zu erschaffen. Daher kehrten sie die Logik der Megacities mit Zeichnungen und Collagen ins Absurde. Zudem entstanden – über alle Gattungsgrenzen hinweg – Filme, Modelle, Ausstellungen, reale Architekturen und Designentwürfe.

Als sich das Kollektiv gegen Ende der 1970er Jahre auflöste, wandte sich Adolfo Natalini dem Städtebau zu, um ab 1991 mit seinem Sohn ein eigenes Büro zu betreiben. Die Superstudio-Collagen wanderten in die großen Architektursammlungen der Welt. Doch am populärsten sollten die Designstücke werden, die man heute zu hohen Preisen handelt. Da ist es nur konsequent, dass die Lübbecker Apotheke wie eine Mischung aus italienischer Espressomaschine und amerikanischem Art Déco daherkommt.

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Bilder: links: Aldo Ballo, rechts: Reinhard Wolf)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke – seit den 1990er Jahre liegt die Leitung der Apotheke bei den Pharmazeut:innen Elke und Volkhard Meyer (Fotos: links/Titelmotiv: Aldo Ballo, rechts: Reinhard Wolf, Bild: Archiv Michael von Jakubowski

Krause-Frassinelli-Natalini

Rainer Krause sprach fließend Italienisch. Schon 1974 hatte er um Superstudio geworben, mit einem Brief auf einem kreisrunden Blatt Papier. Nach einem zweiten Schreiben mit konkreten Vorschlägen erhörten ihn die italienischen Architekten. Natalini und Frassinelli erstellten je einen eigenen Entwurf. Auf dem Grundstück in Lübbecke stand noch ein Backsteinhaus des 19. Jahrhunderts. Im Neubau sollten neben der Apotheke auch eine Arztpraxis und zwei Wohnungen unterkommen. Während sich Frassinelli mit Backstein und einer markanten Silhouette an den Vorgänger anlehnen wollte, blieb Natalini nah an Krauses Vorschlägen und schuf etwas völlig Neues.

In der Bahnhofstraße, auf halber Strecke zwischen Eisenbahn und Altstadt, entstand so ein Kubus, der von zwei schlanken U-Formen durchdrungen wird: Eine der halben Röhren nimmt das Treppenhaus auf, die andere bekrönt das ansonsten flach gehaltene Dach. Immer wieder bringen aufstrebende Glasprismen Tageslicht ins Innere. Nach außen sind die Wände eingehüllt in das regelmäßige Raster grauer Fliesen, gerahmt und durchzogen von blau-grauen Mosaikbändern. Auch die Fenstersprossen tragen diesen Farbton. Später gab Natalini an, er habe sich von deutschen Häusern mit ihren gebogenen Dächern und bunten Dekorfriesen inspirieren lassen – und hat dabei wohl innerlich den Mittelfinger gegen Adolf Loos erhoben.

Deckenleuchte von Superstudio (Edelstahl, Alabaster) und Uhr für den unteren Erker, entworfen von Adolfo Natalini (Fotos: Michael von Jakubowski)

Konsequent ausgestattet – Deckenleuchte von Superstudio (Edelstahl, Alabaster) und Uhr für den unteren Erker, entworfen von Adolfo Natalini (Fotos: Michael von Jakubowski)

Stilbewusst bis ins Detail

Schon früh hatte sich Krause in gutes Design verliebt und vorausschauend kommende Klassiker gesammelt: amerikanische Stücke aus den 1930er/40er Jahren und vieles, natürlich, aus Italien. 1983 zählte Krause zu den vier Gründungsmitgliedern der Designgalerie “quartett” in Hannover, die das opulente Design jener Jahre zelebrierte – schon zur ersten Kollektion gehörten klangvolle Namen wie Ettore Sottsass und Philippe Starck. Mit seinem neuen Partner Michael von Jakubowski überführte Krause die Idee 1987 in die Designfirma “anthologie quartett”, die sich im Schloss Hünnefeld bei Bad Essen ansiedelte. Schon ein Jahr später etablierten beide ihr Beratungsbüro im Loft in der Bahnhofstraße. Folgerichtig war Krause formbewusst bis ins Detail, auch bei der Ausstattung des Lübbecker Hauses. Für die Büromaschinen etwa griff er ausschließlich zur italienischen Marke Olivetti.

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Bild: Grundrisse und Modellstudie, Adolfo Natalini, Scan/Foto: Michael von Jakubowski)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke – ein Kubus, zwei halbe Röhren und viele Glasprismen (Bild: Grundrisse und Modellstudie (Terracotta), Adolfo Natalini, Scan/Foto: Michael von Jakubowski, Bilder: Archiv Michael von Jakubowski)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Bild: Aldo Ballo)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Foto: Aldo Ballo, Bild: Archiv Michael von Jakubowski)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Bild: Aldo Ballo)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Foto: Aldo Ballo, Bild: Archiv Michael von Jakubowski)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Bild: Aldo Ballo)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Foto: Aldo Ballo, Bild: Archiv Michael von Jakubowski)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Bild: Aldo Ballo)

Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Foto: Aldo Ballo, Bild: Archiv Michael von Jakubowski)

Superstudio, Deckenleuchte (Edelstahl/Alabaster) für die Bahnhof-Apotheke in Lübbecke (Foto: Michael von Jakubowski)

Superstudio, Deckenleuchte (Edelstahl/Alabaster) für die Bahnhof-Apotheke in Lübbecke (Foto: Michael von Jakubowski)

Adolfo Natalini, Studie zur Bahnhof-Apotheke Lübbecke, Gouache (Scan: Michael von Jakubowski)

Adolfo Natalini, Studie zur Bahnhof-Apotheke Lübbecke, Gouache (Bild: Archiv Michael von Jakubowski)

Lübbecke, Vorgängerbau der Bahnhof-Apotheke (Bild: Archiv Michael von Jakubowski)

Lübbecke, Vorgängerbau der Bahnhof-Apotheke (Bild: Archiv Michael von Jakubowski)

Literatur

Felicori, Bianca, Pharmacist Rainer Krause’s house designed by Superstudio, in: domus, 13. Januar 2021.

Stark, Ulrike, Architekten – Adolfo Natalini und Superstudio, Stuttgart 1993, 3. Auflage.

Natalini, Adolfo/Superstudio, Una casa fatta (anche) di memoria – Superstudio. Ein Haus (auch) aus Erinnerungen, Lübbecke 1979.

Superstudio, Una casa fatta anche di memorie, in: Casa Vogue 98, 1979.

Verwendung der Bilder von der und zur Bahnhof-Apotheke Lübbecke mit freundlicher Genehmigung von Michael von Jakubowski.

Titelmotiv: Lübbecke, Bahnhof-Apotheke (Bild: Aldo Ballo)

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