von Johann Gallis und Albert Kirchengast (20/4)
Im Schatten von Wien keimten nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder regionale Tendenzen mit eigenständig architektonischer Haltung auf – als wolle man sich gegenüber dem kulturellen Schwergewicht der Metropole behaupten. Doch während die Vorarlberger Baukünstler und die Grazer Schule international bekannt wurden, ist der Burgenländische Brutalismus bislang kaum auf fachliches Interesse gestoßen. Dabei entstand er in einem besonderen Spannungsfeld zwischen Gesellschaft, Politik und kultureller “Entwicklungshilfe”. Eine differenzierte Neubewertung der österreichischen Architekturlandschaft nach 1945 steht also noch aus. Ihre leise Wiederentdeckung wird derweil vom massiven Verlust spätmoderner Bauten begleitet, was ihr freilich einen makabren Beigeschmack verleiht. Anders verhält es sich (zum Glück) mit der Sauerbrunner Sparkasse in Mattersburg.
Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Straßenansicht, Einreichplan von Herwig Udo Graf, 1970 (Bild: © Architekturzentrum Wien, Sammlung, Vorlass Herwig Udo Graf)
“Auf der Überholspur”
Beim Burgenland, dem “Land an der Grenze”, sind es nach 1945 vor allem die beiden Architekten Matthias Szauer und Herwig Udo Graf, die das Baugeschehen über Jahrzehnte prägen. Im Werk des Letzteren sticht die Mattersburger Sparkasse besonders hervor. Seine sonst oft ausgreifend-plastische Gestik wird hier sensibel eingebunden. Unweit des ersten burgenländischen Hochhauses gelegen, Teil des neuformulierten Ortszentrums, schreibt sich die Sparkasse ein in die Geschichte der modernen Neudeutung einer kleinstädtischen Urbanität.
Im Burgenland der 1950er Jahre wirkt der Verlust seiner ehemaligen urbanen Zentren lange negativ nach. Sie verbleiben 1921 bei Ungarn, als man das schmal-lange Bundesland endgültig zu Österreich schlägt. An der östlichen Staatsgrenze verläuft nun der Eiserne Vorhang. Der Lebensstandard des agrarisch geprägten Landstrichs liegt weit unterhalb des österreichischen Durchschnitts. Erst durch die langsame Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und einen gravierenden politischen Wechsel (1964 stellt die SPÖ erstmals den Landeshauptmann) macht sich eine Aufbruchsstimmung bemerkbar. Mit einem ehrgeizigen öffentlichen Investitionsprogramm soll der Rückstand schnell aufgeholt werden. Man befindet sich “auf der Überholspur”, um die Worte des charismatischen Landeshauptmanns Theodor Kery zu bemühen. Die politisch gewollte Modernität soll sich im Bau von Straßen und längst nötigen öffentlichen Infrastrukturen ausdrücken – eine neue gesellschaftliche Identität wird errichtet.
Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Bauarbeiten, 1971 (Bild: © Archiv Dominik Plank)
Burgenland-Brutalismus
Auf Bauschaffende wirkt dieses Klima naturgemäß stimulierend. Man sucht nach dem Studium wieder Fuß im Land zu fassen – so auch der 1940 geborene, bei Karl Schwanzer an der Technischen Hochschule diplomierte Mattersburger Herwig Udo Graf. Gerade beginnt er, sich vorzüglich an der Schweizer Sichtbetonarchitektur seiner Zeit zu orientieren. Ein Stil, der das Burgenland künftig flächendeckend verwandeln wird: Schulen, Altenheime, Gemeindeämter, Hallenbäder, ein Krankenhaus, aber auch Leichenhallen und nicht zuletzt die in Österreich einzigartigen Kulturzentren (KUZ) verleihen dem ländlichen Raum eine Neudeutung. Diese Brutalismus-Variante entspricht weder dem anonymen Bauen, noch dem Häuslbauer-Stil oder der funktionalistischen Moderne. Man hatte eine neue Symbolform gefunden.
Neben der öffentlichen Hand sind es indes auch lokale Bankinstitute, meist kommunale Sparkassen und Raiffeisenverbänden, die sich mehr Platz und Repräsentation leisten können (und müssen). In Mattersburg entschließt sich 1970 auch die Sauerbrunner Sparkasse dazu, ihre Bankfilliale entsprechend aufzuwerten. Ein Neubau soll auf einem Nachbargrundstück des Bestandsbaus aus den 1950er Jahren errichtet werden. Die Wahl fällt auf den Architekten Herwig Udo Graf.
Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Straßenseite, 1978 (Bild: © Architekturzentrum Wien, Sammlung, Vorlass Herwig Udo Graf)
Scharnier zur Geschichte
Der Stadterneuerung fällt zunächst ein biedermeierliches Wohnhaus zum Opfer. Am benachbarten modernistischen Bezirksgericht von Egon Presoly muss zeitgleich ein Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert weichen. Damit entsteht in der Gustav-Degen-Gasse eine schwierige Situation: Die im Westen anschließende Bebauung springt um sieben Meter aus der Flucht. So wird die neue Sparkasse zum Bindeglied, wie der Architekt in seiner Baubeschreibung festhält: “Dieser Umstand wurde durch eine gelenkartige Ausbildung des Stiegenhauses Rechnung getragen.” Auf einem rechteckigen Grundriss erhebt sich nun ein zweigeschossiger Trakt, der im Obergeschoss über die alte Bauflucht auskragt. Der Betonzylinder, einem Wehrturm nicht unähnlich, dient als Scharnier zum südwestlich gelegenen Bezirksgerichtsvorgarten. Damit wird zugleich der horizontale Hauptbau konterkariert sowie der Eingang zu Windfang, Kassenhalle, Direktionsbüro und Nebenräumen mit vertikalen “Schießscharten” markiert.
Dieser quasi öffentliche, nach innen luftige Zylinder erschließt ein extern genutztes Büro im Obergeschoss. Mit dem angegliederten zweigeschossigen Betonkubus kann sich Graf in den Bestand einfügen und diesen neu definieren. Dass der Altbau der 1950er Jahre daneben tatsächlich alt wirkt, überrascht nicht. Schon ein Jahr vor Planungsbeginn schreibt Graf 1969 in einer seiner wenigen theoretischen Stellungnahmen: “Die künstliche Wiederbelebung bereits musealer architektonischer Formprinzipien kann nicht das Ziel sein”. Vielleicht verweist der Sparkassen-Turm aber doch auch auf den abgebrochenen Erker des Bezirksgerichts?
Mattersburg, Bank Austria, Filiale Mattersburg, um 2020 (Bild: Johann Gallis)
Die Umgebung im Blick
Der Brutalismus behandelt die Geschichte ja bekanntlich nicht immer “brutal”, seine Kritik gilt vor allem der “weißen Moderne”. Wird die gesamte Straßenfassade der Mattersburger Sparkasse auch in schalreinem Beton ausgeführt, kann das Obergeschoss doch als Neudeutung eines Renaissance-Erkers gelten – die Fenster- und Portalkonstruktionen aus Mahagoni, das auskragende Obergeschoss mit Fensterband, vorgelagertem Blumentrog und einer betonten Attika-Zone.
Bei der Freiraumgestaltung arbeitet Graf immer wieder nach einem ähnlichen Prinzip. Ein kleiner, der Bauflucht folgender Ziergarten wird vorgelagert und durch eine niedrige gestaffelte Betonmauer begrenzt. In Mattersburg dient dort eine Betonplastik mit stilisiertem Sparkassenlogo zugleich als Einwurfschacht in den unterirdischen Tresorraum. Der Eingangsbereich aus Waschbetonplatten wird von einem Becken mit Wasserspeier flankiert, das den Regenabfluss des Vordaches aufnimmt. Graf zeigt sich damit sensibel für sein Umfeld, sogar inmitten einer Stadt, wie er es im bereits erwähnten Text formuliert: “Die Substanz, mit der sich der Architekt befassen muss, ist in erster Linie die Natur, die Landschaft”, denn “jegliches Bauen beraube ein Stück der Erdoberfläche seiner Natürlichkeit.”
Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Kassenhalle, 1972 (Bild: © Archiv Dominik Plank)
Großzügig und großstädtisch
Im Inneren der Sparkasse fühlte man sich ganz am Puls der Zeit, wie historische Aufnahmen belegen. Auch die Büro- und Bankmöblierung übertraf die Vorgängerfiliale an Großzügigkeit und großstädtischen Flair. Gediegene Interieurs, dunkel furnierte Holzpaneele, Kunststeinböden, eine Lichtdecke oder Spannteppiche, bis zum Boden reichende Stoffvorhänge und nicht zuletzt die Teil-Bespannung der Wandelemente mit Jutetapete schufen den für Graf typischen Kontrast: außen Brutalismus, innen gehobene Wohnarchitektur. Dies verwundert nicht, sorgte Graf doch vor allem in seinem Frühwerk für die Einrichtungen zahlreicher Privathäuser – ein Metier, für das er sich schon als Praktikant in Skandinavien interessiert hatte.
Als die Mattersburger Bank fusionierte, wurde Graf in den 1990er Jahren mit Umbaumaßnahmen betraut. Er öffnete den Kassenraum, gliederte ihn in mehrere Kundenzonen und fand neuerlich zu einer zeitgemäßen Sprache in “harter Schale”. Die repräsentative Straßenfassade wurde nach heutigen denkmalpflegerischen Standards restauriert, der Sichtbeton an Schadstellen saniert, sonst nur gereinigt und an den hochwertigen Holzteilen fachmännisch überholt. Auch in dieser Hinsicht bildet die Sparkasse bis heute einen seltenen Glücksfall im burgenländischen Baugeschehen.
Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Wendeltreppe, 1978 (Bild: © Architekturzentrum Wien, Sammlung, Vorlass Herwig Udo Graf)
Baudaten
Ort: Mattersburg, Gustav-Degen-Gasse 15
Architekt: Arch. DI Herwig Udo Graf, Mattersburg
Mitarbeit: DI Helmut Herschel
Planung: 1970
Realisierung: 1970–72
Ausführung: Baumeister Rudolf Strodl, Mattersburg
Statik: DI Roman Fedorcio, Mattersburg
Künstlerische Gestaltung: Emaille-Wandtafeln, Hannelore Knittler-Gesellmann, Wien/Mattersburg
Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Grundriss, Einreichplan von Herwig Udo Graf, 1970 (Bild: © Architekturzentrum Wien, Sammlung, Vorlass Herwig Udo Graf)
Literatur
Graf, Herwig Udo, Planen, Bauen, Wohnen, in: Peisonia, parteiunabhängige Zeitschrift für Burgenland 1969, 1, S. 4.
50 Jahre Gemeindesparkasse in Sauerbrunn, hg. von der Gemeindesparkasse in Sauerbrunn, Broschüre, 1977, Eigenverlag.
Graf, Herwig Udo, 10 Jahre freischaffende Tätigkeit, 1968-1978, Broschüre, 1978, Eigenverlag.
Gallis, Johann, Bauen für das moderne Burgenland, das Frühwerk der Architekten Matthias Szauer und Herwig Udo Graf, Masterarbeit, Institut für Kunstgeschichte Universität Wien, 2020.
Gallis, Johann/Kirchengast, Albert/Tenhalter, Stefan, Die Nachkriegsmoderne im Burgenland. Bericht einer Bestandsaufnahme, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 2020, 3/4 (erscheint im Dezember 2020).
Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Kassenraum im Altbau, 1970 (Bild: © Archiv Dominik Plank)
Titelmotiv: Mattersburg, Sparkasse Sauerbrunn, Weltspartag in der Sparkasse, 1980er Jahre (Bild: © Archiv Sonja Sieber)
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