von Ute Reuschenberg (23/4)

Kein Wasser, keine Heizung, dafür aber ein gemeinschaftliches Leben mit viel Freiheit – so könnte man eine Wagenburg knapp umreißen. Eine kollektive Wohnform jenseits von festen Mauern, dafür mit mehr menschlicher Nähe und im Einklang mit der Natur. Man nimmt Vorgefundenes, dem ein neues Leben eingehaucht wurde: stillgelegte Fahrzeuge, Bauwagen, umgebaute LKWs, Anhänger oder Busse. Berlin könnte man – neben Freiburg – als Mekka für diese alternative Lebensform bezeichnen. Die einzigartige Situation in der geteilten und dann wiedervereinigten Stadt ließ diese zum Sehnsuchtsort eines Lebens in Frei- und Zwischenräumen werden. Bereits seit Mitte der 1980er Jahre siedelten vereinzelte Wagenburgen im Schatten der Mauer im Bezirk Kreuzberg, fast allesamt aus dem Umfeld der Hausbesetzer:innen-Szene.

Berlin, Köpi-Wagenplatz (Bild: Umbruch-Bildarchiv, 2014)

Berlin, Köpi-Wagenplatz an der Köpenicker Straße (Bild/Titelmotiv: Umbruch-Bildarchiv, Oktober 2021)

Gemeinsam gegen die Entfremdung

Noch heute gibt es mindestens zwölf der autonomen Siedlungen aus den 1980er Jahren auf verschiedenen Brachflächen, etwa das Wagendorf Karow in Berlin-Pankow oder die Wagenburg Lohmühle in Treptow. Insgesamt erproben in Berlin rund 1000 Menschen diese alternative Form des Zusammenlebens – teils explizit mit dem Anspruch, den Schutz der umgebenden Natur zu wahren. Auch wenn ihre Standorte teils legalisiert worden sind, man sogar Steuern zahlt, so drohen die Wagenburgler:innen immer noch durch die zunehmende Gentrifizierung der Stadt verdrängt zu werden.

Doch genau dagegen waren sie angetreten. Denn diese Lebensform beinhaltet nicht nur mehr menschliches Miteinander, sondern auch eine Kritik an zunehmender Entfremdung, an rücksichtslosem Konsum und an der Inbesitznahme Berlins durch Investor:innen und Immobilienhaie. Es war und ist daher ebenso ein Anliegen, Freiflächen für alternative Nutzungen und Lebensentwürfe zu erhalten, selbst wenn die meisten heute zugebaut sind. Die politische Großwetterlage hatte sich nach der Wiedervereinigung verändert, ausgelöst durch den Transformationsprozess Berlins von der „urbanen Ausnahme zur metropolitanen Kapitale“ (Jens Sambale/Dominik Veith). Nach einer Phase der Toleranz und Offenheit („Berliner Linie“) des Senats folgte nun eine Zeit der Feindseligkeit und Härte. Plötzlich lag das Hauptgewicht auf der Verwertung der neuen Filetgrundstücke. Deren Bodenrichtwerte schossen in die Höhe – auch oder gerade die des einstigen Todesstreifens am „antifaschistischen Schutzwall“.

Berlin, East Side Gallery, Wagenburg (Bild: Stiftung Berliner Mauer, Schenkung von Werner Maar)

Die Wagenburg an der East Side Gallery

Schon aufgrund ihrer prominenten Lage, ihrer Größe und vor allem des Medienrummels fand sich die spektakulärste Wagenburg an der East Side Gallery. Sie entstand 1991 nach der Öffnung Berlins auf einem 1,3 Kilometer langen Grenzstreifen entlang der Mauer. Zunächst siedelte hier die geräumte West-Berliner Wagenburg Waldemar (Waldemarstraße), der man das Grundstück zwischen Spree und Mühlenstraße als Ersatz zur Verfügung gestellt hatte. Nach und nach gesellten sich weitere Gruppen dazu und genossen den Schutz der Mauer, der sie vom Rest der Stadt abschottete und ihnen zunächst ein unbehelligtes Dasein zu ermöglichen schien. Doch es mangelte nicht an Schaulustigen, verstärkt durch einen anschwellenden Tourist:innenstrom, der ein besonderes Ziel hatte: Nach dem Mauerfall hatten Kreative aus aller Welt, aus Freude über das Ende der fast 30-jährigen Teilung, den hier verlaufenden Mauerabschnitt durch Wandmalereien und Graffiti in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Noch heute ist die im September 1990 eröffnete, 2009 durch die Kunstschaffenden selbst teils neu gefasste East Side Gallery eine der Hauptattraktionen der Stadt.

Die Wagenburg an der East Side Gallery wuchs rasch an, im Herbst 1993 folgte die vom Engelbecken vertriebene Wagenburg, auch sie lag zuvor im Verlauf der Mauer. Am Ende fanden sich an der East Side über 250 Menschen unterschiedlichster Herkunft wieder. Vielfach waren es junge Menschen, Ausreißer:innen, Kreative, Obdachlose, von Rassismus oder Sexismus Betroffene, die vom besonderen Ort angezogen wurden. Verstärkt wurde dies durch die Zeitqualität des „Dazwischen“ nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung, was sich nirgends so sinnfällig manifestierte wie in Berlin. In der Wagenburg suchten sie Zuflucht und ganz im Sinne einer frühzeitlichen Wagenburg Schutz und die Unterstützung der Gemeinschaft.

Berlin, East Side Gallery (Bild: Stiftung Berliner Mauer, Schenkung von Werner Maar)

Berlin, East Side Gallery mit der Wagenburg (links) und als Besucher:innenmagnet (rechts) (Bilder: Stiftung Berliner Mauer, Schenkung von Werner Maar)

Doch was in den anderen Wagenburgen funktionierte und gelebt wurde, lief hier aus dem Ruder. Kriminalität und Drogendelikte nahmen überhand und dominierten die Schlagzeilen der Hauptstadtpresse. Konflikte waren schon deswegen vorprogrammiert, weil sich die Gemeinschaft so vieler (die sich zudem nicht als ein Ganzes, sondern als Teile einzelner Gruppierungen verstanden) nicht über die gebräuchliche Praxis der Versammlungen und Plenen organisieren ließ. In der Folge fehlte die soziale Kontrolle, das Leben hier geriet aus den Fugen. Auch das seit den 1980ern Jahre in der Szene und so auch hier praktizierte Recycling von Schrott und Zivilisationsmüll kippte ins Negative, obwohl es im Sinne der Ökologie in die richtige Richtung wies.

Am Ende wurde die East Side wahrgenommen als „ein einziger Schrotthaufen, wo Menschen drin gewohnt haben“. So brachte es Zeitzeuge Gerold Kohl, der seit über 30 Jahren in Wagenburgen lebt, 2021 in einem Interview mit der Stiftung Berliner Mauer drastisch auf den Punkt. Die mangelnde Hygiene – erst seit 1994 gab es einige wenige Toilettenhäuser – tat ihr Übriges. Am 17. Juli 1996 räumten 260 Polizeibeamte die Wagenburg an der East Side. Heute kündet nur noch ein Loch in der Mauer von der einst größten Wagenburg Berlins – eine „Durchreiche“, um die langen Wege um die Mauer zu umgehen.

Berlin, Köpi-Wagenplatz an der Köpenicker Straße (Bild: reclaim your city , Oktober 2021)

Luxuswohnungen statt Wagenburgen

Die Leute in der Wagenburg seien wie auf einer Insel gewesen, obwohl sie doch in der Mitte der Stadt waren, erinnert sich der französische Fotograf und Kulturanthropologe Ralf Marsault, ebenfalls in einem Zeitzeugen-Interview mit der Stiftung Berliner Mauer. Er hat selbst 13 Jahre in der „Kreuzdorf Wagenburg“ gelebt und hierüber promoviert. Daher ist er überzeugt, dass die Bedrohung dieses Sozialgefüges nicht von außen, sondern von innen komme. Das Experiment der Demokratie in einer Wagenburg sei, wie auch generell, gefährdet durch die notwendige Offenheit. In diesem Fall durch Leute, die kommen und gehen. De facto konnte in der East Side von Community oder Gemeinschaft keine Rede sein. Auch deswegen verwundert es nicht, dass die Wagenburg an der East Side als die sozial schwächste in Berlin galt. Nach den Berliner Politologen Jens Sambale und Dominik Veith war dies aber eine der Folgen der vorangegangenen Räumungen und einer Verweigerung sozialer Dienste von Seiten des Senats. Sie problematisieren in ihrem 1998 erschienenen Beitrag, dass die kriminellen Vorfälle mit der baulichen Form Wagenburg verknüpft wurden, um diese dann zu bekämpfen. Die Presse tat das Ihrige dazu, um den Platz als „outlaw ghetto“ zu stigmatisieren. Ein Verdacht auf Tuberkulose schließlich besiegelte das Schicksal der East Side Wagenburg. Damit stand den Plänen des Investors Opus für das Büro- und Geschäftshaus Spreefoyer nach den Plänen von Helmut Jahn nichts mehr im Wege.

Auch wenn daraus nichts wurde, so war der Kampf um einen Freiraum für andere Lebenskonzepte an dieser Stelle verloren. Stattdessen realisierte hier der Immobilienentwickler Trockland das im vergangenen Jahr fertiggestellte Wohn- und Hotelprojekt “Pier 61|64” – in direkter Nachbarschaft zu einem der umstrittensten Wohnungsbauprojekte der letzten Jahre: dem 2018 bezogenen Wohnturm “Living Levels” mit exklusiven Luxuswohnungen. Dass nun ein Luxushotel respektive Luxuswohnungen den einstigen Todesstreifen an dieser Stelle dominieren, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus.

War die Wagenburg der East Side von vorneherein durch ihre Offenheit und fehlende Struktur fragil und gefährdet, so traf ihr Schicksal auch die politisch aktiven und sozial stabilen Wagenplätze aus dem Umfeld der Kreuzberger Hausbesetzer:innenbewegung. Erst recht, als sie der Neuformung der Stadt und der Verwertung der innerstädtischen Grundstücke im Wege standen. Im Oktober 2021 wurde der seit 1990 bestehende Köpi-Wagenplatz neben dem linken Kultur- und Wohnprojekt an der Köpenicker Straße mit großem Polizeiaufgebot geräumt. 30 Bewohner:innen verloren den Ort, an dem sie fast 30 Jahre lang zu Hause waren. Auch hier stand ein Immobilieninvestor im Hintergrund.

Berlin, Wagenburg Lohmühle (Bild: Ute Reuschenberg, 2023)

Berlin, Wagenburg an der Lohmühle (Bild: Ute Reuschenberg, 2023)

Ein selbstbestimmtes urbanes Leben

Doch es geht auch anders. Etwa an der Lohmühle im Bezirk Treptow-Köpenick. Ursprünglich besetzten die Wagenburgler:innen ein Stück des Todesstreifens an der Grenze von Kreuzberg nach Treptow, im heutigen Schlesischen Busch. Doch als dieser zu einem Park umgestaltet wurde, wechselte man auf das Gelände neben der Lohmühlenstraße. Heute wie damals leben hier um die 20 Menschen, eine überschaubare Zahl, ganz im Gegensatz zur East Side. Und im Unterschied zur Wagenburg an der Mauer gibt es an der Lohmühle eine funktionierende Community, die diesen Geist sogar nach außen trägt: Das Engagement der Bewohner:innen bereichert hier seit Jahren das kulturelle Leben im Kiez. Sechs Kulturveranstaltungen bestreitet die Wagenburg pro Monat, vom Konzert über Ausstellungen bis hin zu Workshops oder Kino. Daneben ist ein ökologisch verträgliches Leben zum wichtigen Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens avanciert. Das Abwasser etwa wird in eigenen Pflanzenkläranlagen entsorgt und den Strom liefert eine eigene Solaranlage. Es gibt sogar einen Ökolehrpfad.

Man verzichtet bewusst auf öffentlichen Strom und Wasser, um sich die Autonomie zu erhalten. Anders das Wagendorf Karow in Berlin-Pankow, wo 150 Menschen leben. Hier hat jede Wohneinheit einen eigenen Stromanschluss und zumindest die Möglichkeit, einen Anschluss an das öffentliche Wassernetz zu erhalten. Das Wohnprojekt, das sich als integrativ, interkulturell und generationsübergreifend versteht, strukturiert das Zusammenleben sogar per Satzung, Grundstücksordnung und Nutzungsregeln. Diese Formalia ermöglichen aber trotz der beachtlichen Größe des Wagendorfs ein naturnahes Leben in einer toleranten Gemeinschaft, die sich eine große Portion Selbstbestimmung und Teilhabe zum Ziel gesetzt hat.

Sowohl in Pankow als auch an der Lohmühlenstraße ist es gelungen, zwar unsichere, aber vertragliche Absicherungen zu erlangen: Seit 1995 ist der Verein „Pankgräfin e. V.“ Träger des Wagendorfes Karow. Die Wagenburg Lohmühle hat ihren Verein „Kulturbanausen e. V.“ als Verwalter ihres Grundstücks eingesetzt. Diese Regelungen sind allerdings zeitlich begrenzt und daher potenziell gefährdet. Es bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass man sich in Berlin und anderswo der Bereicherung durch solche urbanen Projekte bewusst wird. Die Vielfalt der Lebensentwürfe und Lebensformen macht die Lebendigkeit und damit die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit einer Stadt aus. Noch ist es in Berlin möglich, dass Menschen, die andere Formen des Zusammenlebens wünschen, die mit wenig Komfort auskommen möchten oder müssen, in einer Wagenburg ihren Platz finden – und dies sollte auch so bleiben. Schließlich handelt es sich um nichts weniger als um einen ernst zu nehmenden Versuch, die Rahmenbedingungen der eigenen Existenz zu gestalten, fasst es Ralf Marsault in einem Beitrag über die Wagenburg Kreuzdorf zusammen.

Berlin, East Side Gallery, Birgit Kinder, Test the Best (Bild: Stiftung Berliner Mauer, 2018)

Literatur

Marsault, Ralf, Faintly Falling, Berlin 2020.

Sambale, Jens /Veith, Dominik, Berliner Wagenburgen: Transformation peripherer Räume, Stigmatisierung sozialer Gruppen und die Abwehr von Marginalisierung, in: Prokla 28, 1998, 110, 1, S. 67–93.

Marsault, Ralf , „On the Road again“. Nomadentum, Zugehörigkeit und europäische Staatsbürgerschaft der Wagenburgen in Berlin, in: Paragrana, 2010, 2, S. 153–164.

Online-Auftritt der Stiftung Berliner Mauer mit Zeitzeug:inneninterviews.

Jim Avignon, Doin it cool for the Eas Side (Bild: Stiftung Berliner Mauer, Foto: Jascha Fibich, 2018)

Berlin, East Side Gallery, Jim Avignon, Doin it cool for the East Side (Bild: Stiftung Berliner Mauer, Foto: Jascha Fibich, 2018)


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FACHBEITRAG: Wagenburgen in Berlin

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