von Karin Berkemann (23/4)
Manchmal ist die Geschichte spektakulärer als der Bau selbst: Eigentlich wirken die meisten Fenster der klassizistischen Zwölf-Apostel-Kirche (1874, Friedrich August Stüler) in Berlin äußerst schlicht, als habe man längliche Glasbausteine aufgeschichtet. Doch nachdem die Scheiben in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1943 einem Bombenangriff zum Opfer gefallen waren, musste man sich behelfen. Zum Glück wohnte ein spendabler Spirituosenfabrikant in der Nähe, der rund 5.000 leerer Schnapsflaschen bereitstellte – damit ließen sich die Fenster nach Kriegsende rasch wieder verschließen, provisorisch. Ein Teil der Flächen wurde in den folgenden Renovierungen erneuert und künstlerisch gestaltetet, andere blieben in der Fassung von 1946. Heute stehen sie gerade für ihren stilvollen Pragmatismus unter Denkmalschutz. Diese „Ginkirche“, wie sie die Presse gerne nennt, ist nicht der einzige Standort, der die Flasche als Baustein zu nutzen wusste. Besonders systematisch ging man diese Frage in den 1960er Jahren beim niederländischen Bierhersteller Heineken an.
Die Berliner Zwölf-Apostel-Kirche mit einem der Fenster, das um 1946 mit Ginflaschen geschlossen wurde (Bilder: links: Orderinchao, CC BY SA 4.0, 2015; rechts: Monika, via google-Maps, 2022)
Die Weltflasche
Die Idee für die Word Bottle, kurz Wobo, soll sich Alfred Heineken auf der Insel Curaçao geholt haben, die lange zu den Niederländischen Antillen gehörte. Hier trank man gerne Bier, verfügte aber nicht über die Infrastruktur zur Pfandrückgabe – also blieben die Flaschen in großer Zahl als Müll zurück. Daraus ließe sich doch etwas Sinnvolles machen, dachte sich Heineken. Wieder zu Hause startete er eine Kooperation mit dem Architekten John Habraken, der die Stiftung für Architekturforschung (SAR) leitete. Die ersten, noch hölzernen Wobo-Prototypen erinnerten tatsächlich an die Form von Backsteinen. In einem zweiten Schritt fand Habraken zur später umgesetzten Gestaltung, die sich mehr an einer traditionellen Blockhütte orientierte: quaderförmige Flaschen, deren breite Seitenflächen genoppt waren, damit der Mörtel später gut haften konnte. Und wie bei einer Steckverbindung schmiegte sich der Kopf in den gewölbten Boden der folgenden Flasche.
Etwa 100.000 Stück der weltweit patentierten Wobo-Flasche liefen in Leerdam vom Band – eine Variante für 330, eine für 500 Milliliter. Der simple Bauplan, wie daraus nach dem Biergenuss ein Haus entstehen könnte, sollte auf die Innenseite des Etiketts passen. Heineken hoffte damit auf einen doppelten Erfolg: Die Flaschen würden sich zunächst gut verkaufen, auch auf dem karibischen Markt. In einem zweiten Schritt könnte man sie sammeln und kostengünstig zu einem Haus verbauen. Schon der erste Teil dieser Gleichung ging nicht auf, denn der genoppte kantige Glaskörper lag nicht angenehm in der Hand und war nicht besonders beliebt. Folgerichtig verschwand die Baustein-Flasche rasch wieder aus dem Heineken-Programm. Aber auf Curaçao finden sich – weiß man, wonach man sucht – bis heute Wobo-Häuser. Und die Idee, das Idealbild einer architektonisch weiterverwendbaren Verpackung, hielt sich hartnäckig.
Von der Flasche zur Mauer – Wobo-Flaschen der Firma Heineken aus den 1960er Jahren (Bild: hahatango, CC BY 2.0, via flickr)
Ein Gartenhaus auf Probe
Nur ein einziges Mal hat Alfred Heineken seine Idee konsequent bis zum Ende durchgespielt – auch als Überzeugungshilfe für den eigenen Konzern. In seinem Privatgarten in Noordwijk bei Amsterdam ließ er 1965 ein Häuschen aus Wobo-Flaschen errichten. Die Konstruktion überstand rissfrei mehrere Winter, bei überraschend guten Isoliereigenschaften. Zehn Jahre später fand sich ein Schwarz-Weiß-Foto eben jenes Musterbaus – vor einen poppig-gelben Hintergrund montiert – auf einer der Leitschriften der Recyclingbewegung. In seinem Buch „Garbage Housing“ inszenierte der britische Architekturprofessor Martin Pawley die Heineken-Initiative als Vorzeigemodell. Was die, um den damaligen Begriff zu nennen, Dritte Welt schon lange aus Not und Pragmatismus übte, die Wiederverwendung von „Müll“, habe hier erstmals ein westlicher Industrieller in System und Serie gebracht.
Pawley schwärmte, dass man mit der Wobo-Flasche eine einfache Lösung für ein komplexes Problem (von Armut bis Umweltverschmutzung) gefunden habe. Angespornt durch diese akademische Wertschätzung, wagten Heineken und die SAR-Stiftung einen zweiten Anlauf. Auf dem Gelände der Technischen Universität Eindhoven sollte, zusammen mit weiteren Unternehmen wie Philips, ein Institutsgebäude entstehen. Doch am Ende zerstritten sich die Projektpartner und die Pläne blieben in der Schublade. Erst zur Jahrtausendwende hat man die Wobo-Initiative wiederentdeckt, publiziert und im Heineken-Firmenmuseum neu inszeniert.
Wobo-Glasflaschenhaus, links: Habrakens Planskizze von 1964; rechts: das auf Alfred Heinekens Grundstück in Noordwijk bei Amsterdam 1965 als Modellbau errichtete Gartenhaus, wie es auf dem Cover von Martin Pawleys „Garbage Housing“ abgebildet wurde, darunter symbolisch ein Müllberg (Bilder: Martin Pawley, Garbage Housing)
Provisorisch währt am längsten
Was Heineken im großen, industriellen Stil versuchte (und daran letztlich scheiterte), hat sich als Alltagspraxis bis heute gehalten. Vom improvisierten Weinstübchen, das Form und Funktion sinnfällig verbindet, bis zum halblegalen Rückzugsort im Wald – immer wieder stößt man an unerwarteter Stelle auf äußerst stabil verbaute Glasflaschen. Mit dem frischen Blick der jüngsten Forschung auf zirkuläres Bauen, auf partizipative Projekte mit Wurzeln im globalen Süden, könnte das niederländische Wobo-Konzept so vor seiner dritten Renaissance zu stehen.
Deutsche Konstruktion Marke Eigenbau aus Weinflaschen
Literatur
Collins, Paul, 100,000 Bottles of Beer in the Wall. Alfred Heineken’s recycling program, in: Cabinet, Frühjahr 2004.
Habraken, John u. a., Housing for the Millions. John Habraken and the SAR 1960–2000, Rotterdam 2001.
Pawley, Martin, Garbage Housing, London/New York 1975.
The Story Behind the WOBO, auf: Heineken Collection Foundation.
Mauer aus Wobo-Flaschen (Bild/Titelmotiv: Robert Pla, CC BY NC 2.0, via flickr)
Wobo-Flaschen als Exponate im Heineken-Firmenmuseum in Amsterdam (Bild: Robert Pla, CC BY NC 2.0, via flickr)
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Recycling der Moderne
Hans-Rudolf Meier über die Wiederverwendung als vergessenes Prinzip der Moderne.
FACHBEITRAG: Wagenburgen in Berlin
Ute Reuschenberg über Berliner Protestsiedlungen.
FACHBEITRAG: bauhaus reuse – modern reuse
Robert K. Huber über das Prinzip „modern reuse“, das mit dem Pavillon „bauhaus reuse“ die Erhaltung von Bauerbe mit progressivem Kreislaufdenken verbindet.
FACHBEITRAG: Eisenbahnwaggons als Wohnstätte
Peter Liptau über eine Wiederentdeckung mitten im Abriss.
PORTRÄT: Das Glasflaschenhaus
Karin Berkemann über ein Provisorium, das es bis zur Serienreife brachte.
INTERVIEW: „Neu ist eben nicht immer besser“
Die Architektin Mikala Holme Samsøe im Gespräch über ein Augsburger Modellprojekt.
FOTOSTRECKE: Vintage aus dem Online-Shop
Treppengeländer, Deckenleuchte und Klappsitz, online ist das zirkuläre Bauen längst angekommen.