von Hans-Rudolf Meier (23/4)

Zu den konstituierenden Brüchen der Moderne in der Architektur gehört die Negierung der selbstverständlichen vormodernen Praxis, noch brauchbares Baumaterial wiederzuverwenden. Mit der Industrialisierung des Bauwesens entwickelte man neue Materialien und Techniken, insbesondere Beton wurde weltweit zum führenden billigen Baustoff. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die Mangelsituation der ersten Jahre danach bewirkten dann kurzzeitig erneute Rückgriffe auf verfügbare Altmaterialien, wobei es neben wertvollen Werkstücken hauptsächlich Backsteine waren, die wiederverwendet wurden. Über den rein materiellen Nutzen hinaus kam ihnen auch symbolische Bedeutung zu: Die sog. Trümmerfrauen wurden ideologisch zum Mythos überhöht, ‘Trümmerkirchen’ hatten an die verlorenen Vorgängerbauten und zugleich an die Zerstörung und deren Ursache zu erinnern. Hans Döllgast schuf mit der Schließung des Bombenschadens der Alten Pinakothek in München durch Sichtmauerwerk aus Trümmersteinen ein bis heute zu Recht gepriesenes Vorbild für die Reparatur eines Schadens bei dessen gleichzeitiger Kommemorierung. Es waren also hauptsächlich die traditionellen Baumaterialien, die in der traditionellen Kulturtechnik der Wiederverwendung zum Einsatz kamen. Das gilt selbst für Ikonen der Nachkriegsmoderne: So besteht etwa in Le Corbusiers Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp die Mauer mit der Außenkanzel aus den Steinen der im Krieg zerstörten, historistischen Vorgängerkapelle.

Kopenhagen Ørestad, Upcycle Studios, Lendager Group, 2015–2018: Die Fenster stammen von Abbruchliegenschaften in Jütland, der Beton vom U-Bahnbau in Kopenhagen (Bild: Lendager Group, Rasmus Hjortshøj)

Kopenhagen Ørestad, Upcycle Studios, Lendager Group, 2015–2018: Die Fenster stammen von Abbruchliegenschaften in Jütland, der Beton vom U-Bahnbau in Kopenhagen (Bild/Titelmotiv: Lendager Group, Rasmus Hjortshøj)

Moderne Materialien

Vereinzelt sind freilich schon im 19. Jahrhundert moderne Materialien architektonisch wiederverwendet worden. In der Schweizer Eisenbahnstadt Olten errichtete man 1870/71 im historistischen Wiederaufbau des sog. Säli-Schlössli die runden Ecktürmchen aus dem Eisenblech von Kesseln abgewrackter Dampfloks. Hie und da fanden auch gusseiserne Stützen ihren zweiten Einsatz. Beton als der Baustoff der Moderne schlechthin wurde dagegen, gerade weil er ein solch billiges und überall verfügbares Material geworden war, lange Zeit kaum wiederverwendet. Das begann sich erst in den 1980er Jahren zu ändern, als das Umweltbewusstsein allmählich auch den Baubetrieb erreichte.

Noch immer wird aber vor allem Downcycling praktiziert und Altbeton als Zuschlag für neuen Beton oder die Herstellung von Straßenbelägen verwendet. Immerhin lässt sich so die Umweltbelastung erheblich reduzieren, wie etwa die Lendager Group mit den Upcycle Studios in Kopenhagen zeigt, wo für die 20 Reihenhäuser rezyklierte Betonreste aus der Kopenhagener Metro eingesetzt und damit – zusammen mit der Wiederverwendung von Holz und Fenstern – der CO₂-Ausstoß für den Neubau etwa um die Hälfte reduziert werden konnte. Noch haben Projekte wie die Wiederverwendung von Beton-Stützen aus einem Abbruchgebäude, was derzeit das ReBuiLT-Team der ETH Lausanne in Renens erprobt, experimentellen Charakter.

Eher anekdotisch wirken die rezyklierten Waschbetonfragmente vom Technischen Rathaus in Frankfurt, die Jordi & Keller in den Fries zwischen den Rundbogen des Hauses Großer Rebstock/Markt 8 in der Neuen Altstadt eingefügt haben; sie erinnern an das abgebrochene Technische Rathaus der 1970er Jahre, passen aber auch zur modernen Funktion der Durchgangsarkaden, die den Zugang zur darunterliegenden U-Bahnstation gewähren.

links: Berlin, Plattenvereinigung auf dem Tempelhofer Feld, Zukunftsgeräusche, 2011: Rezykliert wurden Betonplatten vom Münchner Olympiadorf und einer Wohnsiedlung in Frankfurt/Oder (Bild: Hans-Rudolf Meier); rechts: Frankfurt am Main, Großer Rebstock/Markt 8, Jordi & Keller, 2013–2017: Die Waschbeton-Fragmente des Technischen Rathauses korrespondieren mit dem Rauputz über den Arkaden (Bild: Hans-Rudolf Meier)

links: Berlin, Plattenvereinigung auf dem Tempelhofer Feld, Zukunftsgeräusche, 2011: Rezykliert wurden Betonplatten vom Münchner Olympiadorf und einer Wohnsiedlung in Frankfurt/Oder; rechts: Frankfurt am Main, Großer Rebstock/Markt 8, Jordi & Keller, 2013–2017: Die Waschbeton-Fragmente des Technischen Rathauses korrespondieren mit dem Rauputz über den Arkaden (Bilder: Hans-Rudolf Meier)

Alternativkultur und Konsumkritik

Zeichenhaft sind die wiederverwendeten Betonscheiben des Projekts „Plattenvereinigung“ auf dem Tempelhofer Feld in Berlin: Der Name ist programmatisch für das Herkunftsnarrativ, sind es doch Platten aus Ost und West (genauer von Wohnhochhäusern in Frankfurt/Oder und aus dem olympischen Dorf in München), die 2010/11 in einem vielschichtigen Projekt zu einem neuen Gebäude zusammengeführt wurden. Er verweist auch auf die verschiedenen Versuche, mit Platten aus Großwohnsiedlungen um-, an- und weiterzubauen. Benachbart auf dem Tempelhofer Feld liegen Granitplatten aus dem abgebrochenen Palast der Republik, die im Projekt „Vogelfreiheit“ zu einer Skateranlage zusammengefügt wurden. Herkunft, Name und Funktion stellen den Zusammenhang zur Alternativkultur her – und damit zu einer der Wurzeln der Wiederverwendung im (spät)modernen Bauen.

Denn parallel zur frühen Ökobewegung entstanden in der Gegenkultur der Hippies in den 1960er Jahren, im Zeichen der Konsumkritik, Bauwerke aus modernen Materialabfällen. Eine gewisse Berühmtheit erlangten etwa die Kuppelbauten aus aufgeschnittenen Autokarosserien und wiederverwendeten Dachlatten in Drop City bei Trinidad in Colorado, 1966 mit dem Dymaxion Award auszeichnet. Durch einen Vortrag hatte der visionäre Architekt und Konstrukteur Richard Buckminster Fuller die Mitglieder der Künstler:innen- und Hippie-Kommune zu diesen Bauten angeregt. Glasflaschen, Bierdosen und Autoreifen sind andere moderne Materialen, mit denen besonders an der amerikanischen Westküste in den 60er bis 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Alternativszene im Hausbau experimentiert wurde.

Brüssel, Europagebäude, Philippe Samyn and Partners, 2016: 3000 wiederverwendete Holzrahmenfenster sollen die Einheit in der Vielfalt der Europäischen Union versinnbildlichen (Bilder: Hans-Rudolf Meier)

Brüssel, Europagebäude, Philippe Samyn and Partners, 2016: 3000 wiederverwendete Holzrahmenfenster sollen die Einheit in der Vielfalt der Europäischen Union versinnbildlichen (Bilder: Hans-Rudolf Meier)

Fensterrecycling

Sehr viel weiter verbreitet ist heute die Wiederverwendung von Fenstern und Fassadenelementen und damit von gefügten Teilen, was deren De- und Remontage erleichtert – sie prägen gegenwärtig das Bauen mit Recycling-Material am sichtbarsten. Ikonisch ist das neue Repräsentationsgebäude des Europäischen Rats in Brüssel, dessen als Patchwork beschriebene Straßenfassaden aus einem Raster bestehen, in das um die 3000 aufgearbeitete Holzrahmenfenster aus dem gesamten EU-Gebiet eingefügt sind.

In anderer Weise programmatisch ist das Projekt ELYS in Basel, der Umbau eines ehemaligen Großverteilerzentrums in ein Kultur- und Gewerbehaus. Dazu hat das Büro in situ 200 Fenster eingefügt, die bei verschiedenen Hersteller:innen im Umkreis von 100 Kilometern vom Bauplatz als überzählig in den Lagern gestanden hatten. Rezykliert wurden in der Fassade auch zu Leimbinder verarbeitete Hölzer von Abbrüchen in der Umgebung sowie Trapezbleche der vorherigen Dachabdeckung. Zunächst weniger auffällig ist der bauhaus reuse-Pavillon auf dem Ernst-Reuter-Platz in Berlin, dessen Fassaden aber aus Fenstern des Bauhaus-Schulgebäudes in Dessau gefügt wurden, die dort im Zuge der Rekonstruktion 1976 eingebaut und bei der energetischen Sanierung 2011 ersetzt worden waren. Ebenfalls in Berlin sind Platten (aus Marzahn) und Fensterscheiben (vom Palast der Republik) vereint im sog. Plattenpalast an der Wolliner Straße.

Basel, Kultur- und Gewerbehaus ELYS, Baubüro in situ, 2016–2020: Die Fenster stammen aus verschiedenen Lagerbeständen, die Abdeckbleche vom früheren Dach des Bestandsbaus (Bild: Martin Zeller)

Basel, Kultur- und Gewerbehaus ELYS, Baubüro in situ, 2016–2020: Die Fenster stammen aus verschiedenen Lagerbeständen, die Abdeckbleche vom früheren Dach des Bestandsbaus (Bild: Martin Zeller)

Ein zweites Leben für die Fassade

Vorgehängte Fassadenelemente eignen sich ähnlich gut wie Fenster zur Wiederverwendung. So hat man in Leipzig dem Neubau der Shopping-Mall „Höfe am Brühl“ die Alu-Fassade des abgebrochenen DDR-Kaufhauses erneut vorgehängt, damit einen Wiedererkennungseffekt an die sog. Blechbüchse erreicht und auf diese Weise die Kritik einer breiten Öffentlichkeit an deren Abbruch besänftigt.

War in diesem Fall Recycling ein Kontinuität stiftendes Element, so ist die Wiederverwendung von sogenannten Horten-Kacheln in Magdeburg-Salbke geradezu ein Sinnbild der Transformation. Nachdem zunächst 2005 von einer Bürgerinitiative auf einer zentralen Brache im Magdeburger Ortsteil Salbke mit Bierkisten eine temporäre Freilichtbibliothek errichtet worden war und die erfolgreiche Aktion danach eine institutionelle Förderung nach sich zog, konnten 2007 mehrere hundert Fassaden-Kacheln vom Abbruch des ehemaligen Kaufhauses Horten in Hamm gekauft und von KARO* Architekten und Sabine Eling-Saalmann Architektur + Netzwerk zu einem Hybridbau gefügt werden, der zugleich Gebäude, Möbel und Freiraumgestaltung ist. Dass charakteristische Bauelemente einer untergehenden Kaufhaus-Epoche Westdeutschlands in einem Problemviertel des Ostens der Errichtung einer Stadteilbibliothek dienten, ist eine symbolträchtige Pointe der Materialisierung gesellschaftlichen Wandels.

Magdeburg-Salbke, Lesezeichen, KARO* Architekten/Sabine Eling-Saalmann Architektur + Netzwerk, 2004–2009: Die für eine ganze Generation von Kaufhäusern der alten Bundesrepublik charakteristischen Kacheln stammen aus Hamm (Bild: Hans-Rudolf Meier)

Magdeburg-Salbke, Lesezeichen, KARO* Architekten/Sabine Eling-Saalmann Architektur + Netzwerk, 2004–2009: Die für eine ganze Generation von Kaufhäusern der alten Bundesrepublik charakteristischen Kacheln stammen aus Hamm (Bild: Hans-Rudolf Meier)

Erhalten und weiternutzen

Fenster, Platten und Kacheln als vergleichsweise kleine Einheiten lassen das Gestalten in vorgegebenen Dimensionen zu, wogegen sperrigere Teile – zum Beispiel wiederverwendete Stahlträger, wie sie in Winterthur für den Erweiterungsbau K118 zum Einsatz kamen – die weitergehende Anpassung der Planung an das verfügbare Material erfordern. „Was verfügbar ist und passt, determiniert die Gestaltung“, heißt es beim ausführenden Büro in situ, die von der Umkehrung gängiger Entwurfsprozesse sprechen. Auch Lionel Devlieger, einer der Mitbegründer des auf Rückbau und Wiederverwendung spezialisierten belgischen Büros Rotor, bezeichnet dieses Tun als „architecture à l’envers“. Zunehmend bieten Spezialfirmen wie Concular über digitale Materialbörsen Materialien auch der Moderne – von Brandschutztüren bis Schwimmbadtechnik – zur Wiederverwendung an (wobei nicht selten Schadstoffbelastungen nur schwer überwindbare Hürden darstellen). Materialpässe erleichtern den zukünftigen Handel und die spätere Recycling-Planung. Ein Hemmnis stellen dagegen die geltenden Vorschriften dar, weshalb aktuell Architekt:innenverbände und Umweltaktivist:innen eine Umbauordnung fordern.

So wichtig und interessant Recycling im Bauen aber auch ist, gilt es doch stets zu bedenken, dass Urban Mining letztlich ein Gegenkonzept zum Erhalt ist: In jeder Beziehung besser ist es, die Bauten der Moderne zu erhalten und weiterzunutzen, als ihre Materialien zu recyceln!

Berlin, BHROX bauhaus reuse-Pavillon auf dem Ernst Reuter-Platz, Zukunftsgeräusche, 2019. Recyclingbau aus den Fenstern der DDR-Sanierung des Bauhaus-Gebäudes in Dessau (Bild: Hans-Rudolf Meier)

Berlin, BHROX bauhaus reuse-Pavillon auf dem Ernst Reuter-Platz, Zukunftsgeräusche, 2019: Recyclingbau aus den Fenstern der DDR-Sanierung des Bauhaus-Gebäudes in Dessau (Bild: Hans-Rudolf Meier)

Literatur

Choppin, Julien/Delon, Nicola, Matière grise. Matériaux/réemploi/architecture, Paris 2014.

Institut Konstruktives Entwerfem ZHAW/Baubüro in situ et al, Bauteile wiederverwenden. Ein Kompendium zum zirkulären Bauen, Zürich 2021.

Meier, Hans-Rudolf, Spolien. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur, Berlin 2022, 2. Auflage.

Stockhammer, Daniel (Hg.), Upcycling. Reuse and Repurposing as a Design Principle in Architecture, Vaduz/Zürich 2021, 2. Auflage.

Peter Rabbit, Drop City, 1971, Buchcover (Foto des Buchs: Hans-Rudolf Meier)

Drop City, Trinidad/Colorado, 1967: Angeregt durch einen Vortrag von Buckminster Fuller entstanden in der Hippiesiedlung aus Abfallmaterial ein gutes Dutzend Kuppelbauten (Bild: Peter Rabbit, Drop City, 1971, Buchcover; Foto des Buchs: Hans-Rudolf Meier)


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Inhalt

LEITARTIKEL: Recycling der Moderne

LEITARTIKEL: Recycling der Moderne

Hans-Rudolf Meier über die Wiederverwendung als vergessenes Prinzip der Moderne.

FACHBEITRAG: Wagenburgen in Berlin

FACHBEITRAG: Wagenburgen in Berlin

Ute Reuschenberg über Berliner Protestsiedlungen.

FACHBEITRAG: bauhaus reuse – modern reuse

FACHBEITRAG: bauhaus reuse – modern reuse

Robert K. Huber über das Prinzip “modern reuse”, das mit dem Pavillon “bauhaus reuse” die Erhaltung von Bauerbe mit progressivem Kreislaufdenken verbindet.

FACHBEITRAG: Eisenbahnwaggons als Wohnstätte

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Peter Liptau über eine Wiederentdeckung mitten im Abriss.

PORTRÄT: Das Glasflaschenhaus

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Karin Berkemann über ein Provisorium, das es bis zur Serienreife brachte.

INTERVIEW: "Neu ist eben nicht immer besser"

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Die Architektin Mikala Holme Samsøe im Gespräch über ein Augsburger Modellprojekt.

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Treppengeländer, Deckenleuchte und Klappsitz, online ist das zirkuläre Bauen längst angekommen.

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