von Peter Liptau (23/4)

Wenn sich das Tinyhouse aktuell großer Beliebtheit erfreuen, ist es vielleicht an der Zeit, auf seine Vorbilder zurückzublicken. Neben Zirkuswagen, Trailerparks und weiteren mobilen Versatzstücken wird man gerade in jenen Jahrzehnten fündig, in denen Not oder zumindest Pragmatismus viel Improvisationsgeschick auf den Plan rief: Zeiten des Mangels an Wohnraum und Baumaterialien. Ein gutes Beispiel dafür finden bzw. fanden wir in der Stadt Feucht in Mittelfranken: Es schien wie eine Neuentdeckung, die 2018 mit einem Anruf bei der Gemeinde begann. Mitten im Wohngebiet stünden zwei Eisenbahnwaggons. Gefunden beim Abriss eines kleinen Einfamilienhauses. Ratlosigkeit.

Feucht, Wohnhaus während des Abrisses (Bild: Herbert Bauer)

Feucht, Wohnhaus während des Abrisses (Bild/Titelmotiv: Herbert Bauer)

Ein Überraschungsfund

Auch Herbert Bauer – Gemeinderat, aktiv für die Chronik von Feucht und bestens mit der lokalen Geschichte vertraut – hatte noch nie von diesem solchen Fall gehört. Er wohnt in der Umgebung und war schnell mit der Kamera zugegen, um den Fund zu dokumentieren. Doch eine genaue Antwort, wie diese Eisenbahnwaggons eigentlich dorthin gekommen sind, ließ sich nicht finden. Es blieben Mutmaßungen – auch zu der Frage, warum eigentlich niemand mehr davon wusste.

Scheinbar hatte zumindest der Abbruchunternehmer eine Vorahnung oder gerüchteweise davon gehört. Er rechnete aber eher damit, dass Einzelteile oder maximal eine Bodengruppe der Waggons auftauchen – als Fundament oder als Deckenbalken, aus den Zeiten, als das Material knapp war. Denn es ist keine Seltenheit, dass in den Nachkriegsjahren etwa Bahngleise als Deckenträger, Fenster- und Türstürze genutzt wurden.

Feucht, Wohnhaus mit freigestellten Waggons (Bild: Herbert Bauer)

Feucht, Wohnhaus mit freigestellten Waggons (Bild: Herbert Bauer)

Bei der Reichsbahn

Ein wenig ließ sich dann doch zu den Hintergründen des besonderen Wohnhauses herausfinden: Früher arbeitete der Erbauer bei der Reichsbahn. Die ausgemusterten Waggons hatte er um 1947 erhalten und sie direkt neben den Bahngleisen auf eine Wiese stellen lassen. Ringsherum gab es damals wohl noch keine Bebauung. Die neue wurde Behausung geduldet, weil sie theoretisch wieder abtransportiert werden konnte. In diesem speziellen Fall war, so berichten Zeitzeug:innen, keine Genehmigung nötig.

Als man die umgebenden Wiesen in Bauland umwidmete, wurden die Waggons kurzerhand ummauert und mit einem Satteldach versehen. Damit erwies sich das Feuchter Häuslebauer nicht nur in der Materialbeschaffung als kreativ, sondern ebenso im Umgehen von bürokratischen und juristischen Regeln. Der kleine Bau glich am Ende den Gartenstadt- oder Siedlungshäusern der 1930er oder 1950er Jahren, Jägerzaun inklusive.

Feucht, Wohnhaus (Bild: Steffen Engel)

Feucht, Wohnhaus vor dem Abriss (Bild: Steffen Engel)

Komplettrecycling

Im Keller blickte der Abbruchunternehmer von unten auf die vollständigen Bodengruppen von zwei, je zehn Meter langen Reichsbahnwaggons. Die abgerundeten Zimmerdeckenanschlüsse in den Wohnräumen bestärkten seine Ahnung. Doch erst der schrittweise Rückbau sollte mehr zutage fördern. Es erschienen Details wie ein Reichsbahnlogo mit Adler und Lorbeerkranz – dessen Hakenkreuz war scheinbar schon vor der Umnutzung übermalt worden.

Darüber hinaus konnten die Seriennummern entziffert werden. Demnach handelte es sich um Personenwaggons aus den Jahren 1902 und 1907. Der Abbruchunternehmer plante, sie abzutransportieren und instand zu setzen. Anschließend wollte er sie selbst nutzen: einen als Büro, einen als Wellnesshäuschen samt Sauna nutzen. Dann wurde es erst einmal still um die Sache.

Feucht, Waggon (Bild: Steffen Engel)

Feucht, Abtransport der Waggons (Bild: Herbert Bauer)

In der Bildzeitung

Schon 2019 tauchten die Feuchter Waggons wieder in der Presse auf. Die Bildzeitung nutze die Geschichte in ihrer bekannten Art. Tatsache ist, so berichten es auch andere Medien, dass der Abbruchunternehmer zu dieser Zeit in Untersuchungshaft saß, vermeintlich wegen Waffenbesitzes. “Hier vergammeln die mysteriösen Nazi-Waggons” – damit stellt die Bildzeitung eine Frage in den Raum: Handelte der Abrissunternehmer vielleicht mit Waffen, die er just in den „zwei Waggons von Hitlers Reichsbahn mit Hakenkreuzemblem“ gefunden hatte?

Jurist:innen berichtigten, dass davon definitiv nicht die Rede sein konnte. Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen den Waggons und den möglichen Straftaten. Fakt ist auch, dass sie 2019 schon längst auf dem Grundstück eines Künstlers in Deining in der Oberpfalz standen. Hier sind sie aber mittlerweile auch wieder spurlos verschwunden sind. Dieser Verlust ist, so nicht zuletzt auch der Leiter des DB-Museums Oliver Götze, sehr bedauerlich.

Flörsheim, Haus während des Abrisses (Bild: eisenbahnstiftung.de)

Flörsheim, Haus während des Abrisses mit bereits demontiertem Dach (Bild: eisenbahnstiftung.de)

Zweite Chance als Partyraum

Ein ähnliches Beispiel ist aus Flörsheim am Main bekannt. Hier war aber durchaus bekannt, dass sich unter der Fassade in der Siedlung „Auf der Keramag“ (in der Nähe des gleichnamigen Keramikunternehmen) ein Eisenbahnwaggon befand. Eine Tatsache, die sich schon aufgrund der Bauform aufdrängte. Nachdem das Haus nicht mehr bewohnt wurde, nutzten es Nachbar:innen noch einige Jahre als Partyraum.

Der neue Eigentümer wollte das Haus abreißen, um das Grundstück neu zu bebauen. Im Wissen um den besonderen Kern der Konstruktion wurden viele Institutionen, Eisenbahnmuseen und Vereinen angefragt. Doch keiner hatte Interesse, den Waggon zu übernehmen, sodass 2012 mit dem Abbruch begonnen wurde. Über Umwege wendete sich das Blatt noch einmal: Die örtliche Briefträgerin stellte den Kontakt zur Stiftung Deutsche Eisenbahn her, deren Vorstand sich direkt auf den Weg machte. Vor Ort war zwar die historische Dachhaut schon verloren, dennoch konnte der Rest gerettet werden.

Flörsheim, Haus während des Abrisses (Bild: eisenbahnstiftung.de)

Flörsheim, Detail des Waggons (Bild: eisenbahnstiftung.de)

Kein Einzelgänger

Für Flörsheim kann zumindest ein Teil der Geschichte rekonstruiert werden. Zeitzeug:innen zur Folge gab es in der Siedlung weitere Waggonhäuser, die aber allesamt in den letzten Jahrzehnten verschwunden sind – sie wurden in der Keramag-Arbeitersiedlung bereits 1941 als Behelfswohnheime aufgestellt.

Der gerettete Waggon stammt vom Kasseler Hersteller Wegmann und trägt die Typenbezeichnung D3i Pr-06: ein Wagen der vierten Klasse bei der Königlich Preußischen Eisenbahn aus dem Jahr 1907. Da die vierte Klasse bereits 1928 abgeschafft wurde, blieb eine Lücke zwischen 1928 und der Neuaufstellung im Jahr 1941. Zumindest ist bekannt, dass es sich wohl um den einzigen erhaltenen Wagen dieser Bauart handelt. Und im Gegensatz zum Fall von Feucht soll dieser preußische Waggon wieder auf die Schiene: Die Stiftung Deutsche Eisenbahn will ihn sanieren und wieder mobil machen. Dafür werden aktuell noch Spenden gesammelt.

Stadtlohn, Eisenbahnwaggon als Ferienwohnung (Bild: booking.com)

Stadtlohn, Eisenbahnwaggon als Ferienwohnung (Bild: booking.com)

Aus der Schale befreit

Der Eisenbahnwaggon als Wohnraum oder zumindest als Übernachtungsmöglichkeit ist immer noch in Mode. Weltweit gibt es sogar einige Hotels, die umgebaute Waggons anbieten. Und im nördlichen Ruhrgebiet, in Marl-Sinsen, hat sich ein Fotograf seinen Traum erfüllt hat und zwei ausgemusterte Postwagen der Deutschen Bundesbahn zu einem Wohnhaus mit Fotoatelier zusammengefasst.

Dass auch unter so mancher Fassade doch noch der ein oder andere Eisenbahnwaggon schlummert, zeigt ein jüngster Fund in Lieskau bei Halle. Hier wurde unter der Hülle eines Gartenhäuschens einer der ältesten bekannten erhaltenen Waggons geborgen. Schon 1931 wurde er scheinbar bei der Reichsbahn ausgemustert und diente fortan als Gartenlaube und in der unmittelbaren Nachkriegszeit sogar als Flüchtlingsunterkunft.

Es bleibt festzuhalten, dass man umgenutzte Waggon früher meist bewusst ‘versteckte’. Mit Walm- oder Satteldach sowie verputzten Wänden wurde daraus nach außen ein ganz ‘normales’ Haus. Heute hingegen zelebrieren die Nutzer:innen gerne die Herkunft ihres Domizils. Während zumindest eines der hier geschilderten historischen Beispiele aus der Schale befreit wurde – und sich auf dem Weg zurück auf die Schienen befindet. 

Feucht, Waggon mit freigelegtem Signet (Bild: Steffen Engel)

Feucht, Waggon mit freigelegtem Reichsbahnlogo (Bild: Steffen Engel)

Feucht, Waggon (Bild: Steffen Engel)

Feucht, Details der Waggons (Bild: Herbert Bauer)

Feucht, Waggon (Bild: Herbert Bauer)

Feucht, Details der Waggons (Bild: Herbert Bauer)


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