von Cordula Schulze (22/3)

Motivtassen sind ja so eine Sache – sie sind dazu da, Erinnerungen zu wecken, aber sie liegen oft nicht so gut in der Hand und die Gestaltung verblasst beim Spülen. Das war mir aber 2019 alles total egal: Die Stadt Essen feierte den 40. Geburtstag ihres Rathauses und brachte eine Motivtasse heraus, die eben dieses Gebäude zeigt. Warum ich sie trotz meiner Vorbehalte kaufte? Weil es wirklich eine Seltenheit ist, dass es Merchandise-Artikel für unbeliebte Architekturen der Moderne gibt. Denn das arme Essener Rathaus genießt keinen guten Ruf – zu Unrecht, wie ich finde.

Essen, Rathaus (Bild: historische Postkarte)

Essen, Rathaus (Bild: historische Postkarte)

Ohne viel Trara

Jetzt ist es so, dass ich in Essen aufgewachsen bin und zum Zeitpunkt der Eröffnung acht Jahre alt war. Ich erinnere mich also an das Raunen, dass die damals fünftgrößte Metropole Deutschlands, die Malocherstadt an der Ruhr, das höchste Rathaus der Republik haben sollte. Die Gefühle, so erinnere ich mich, schwankten zwischen Stolz und Belustigung. Zu viel Trara kommt in Essen in der Regel nicht gut an. Und dann ging es auch gleich weiter mit den Superlativen: Ab 1980 – aber nicht für lange Zeit – schnitt eine Lichtinstallation der „Projektgruppe Kunst & Kommunikation“ vom hohen Rathausdach Laserstreifen in den Himmel. Die zuckten mal links, mal rechts, ein abstrakter Tanz. Wenn wir abends auf der Terrasse saßen, sahen wir diese Vorboten einer technologiegeprägten Zukunft. Ich fand’s furchtbar, es fühlte sich falsch an.

Essen, Rathaus (Bild: Cordula Schulze)

Essen, Rathaus (Bild: Cordula Schulze)

Rathaus Essen

  • Architekt: Theodor Joseph Seifert
  • Bauzeit: 1975–1979
  • Höhe: 106 Meter
  • Etagen: 23
  • Nutzungsfläche: 69.000 Quadratmeter
  • Baustoffe: Stahl, Stahlbeton, Glas
  • Baukosten: ca. 189.000.000 DM

Ausgesprochen schick

Anders aber das Rathaus, das hat mich früher nicht gestört – und heute finde ich den Bau in markanter Ypsilon-Grundform mit seinen 3.285 Fenstern ausgesprochen schick. Seine Vorgeschichte ist hoch umstritten und führt vielleicht dazu, dass Essen nie so recht mit dem aktuellen Rathaus warm wurde. Denn es gab einen neugotischen Vorgänger, der den Krieg überstanden hatte und das schmuck mit seinen Giebeln und Türmchen im historischen Zentrum stand.

Noch heute betrauern viele Essener:innen den Verlust dieses Gebäudes nach einem Entwurf von Peter Zindel und Julius Flügge, das 1964 abgerissen wurde. Der Grund: Die Stadt verkaufte das zentral gelegene Grundstück an einen Handelskonzern. Ab dieser Zeit war Essen rund 15 Jahre ohne eigenes Rathaus, man nutze stattdessen Provisorien und machte sich auf den langen Weg der Architekturausschreibung. Nach einer turbulenten Entwurfsphase entstand schließlich das nunmehr vierte und zugleich aktuelle Rathaus von Essen aus der Feder von Theodor Joseph Seifert. Es stellt noch heute einen markanten Orientierungspunkt im Stadtbild dar. Im Keller befindet sich ein Theater, sodass der Bau den Bürger:innen nicht nur für ‘Amtsgeschäfte’ offensteht.

Essen, Haltestelle Rathaus (Bild: Clic, CC BY SA 3.0, 2018)

Essen, Haltestelle Rathaus (Bild: Clic, CC BY SA 3.0, 2018)

In der Stadt verwurzelt

Vor Ort stellt man fest, dass das Gebäude mit zahlreichen Eingängen in mehrere Richtungen in der Stadt verwurzelt ist. Man kommt hinein, indem man einen überdachten Shoppingbereich von der Innenstadt durchläuft, aber auch von einem Supermarkt und aus dem angrenzenden Wohnviertel. Die 70er-Tugenden sind erfüllt, Verkehrsarten getrennt. Unter Autos und Bussen befindet sich eine Stadtbahnhaltestelle. Deren Wandverkleidung aus kleinen orangefarbenen Kacheln ist skandalöserweise jetzt grau angemalt oder überdeckt. Hoffen wir, dass die Fassade des Rathauses nicht demnächst ebenfalls dem Zeitgeist zum Opfer fällt.

Essen, Rathaus (Bild: Tuxyso, CC BY SA 3.0, 2021)

Essen, Rathaus (Bild: Tuxyso, CC BY SA 3.0, 2021)

Essen, Motivtasse zum 4. Geburtstag des Essener Rathauses (Bild: Cordula Schulze)

Titelmotiv: Essen, Motivtasse zum 40. Geburtstag des Rathauses (Bild: Cordula Schulze)



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Bonus-Beitrag

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Inhalt

Das blaue M

Das blaue M

Barbara Dechant über einen letzten Zeugen der “Berliner Markthalle”.

Die Telefonzelle

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Svenja Hönig und Fabian Schmerbeck über die Zeiten, als ein Telefon noch ein Kabel und ein Dach hatte.

Die Bröselmühle

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Sophia Walk über den Kiosk der Stadtbücherei, geformt wie ein geöffnetes Buch.

Tina, Emma und ich

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Michael Grote über sein Stück Freiheit auf zwei Rädern.

Die Rathaustasse

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Cordula Schulze über das Souvenir eines 40. Geburtstags.

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Nini Palavandishvili über abchasische Fantasiegebilde.

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Martin Turck über einen seltenen Designklassiker.

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Mark Meusel über Haus Paepke im hessischen Carlsdorf.

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