von Sophia Walk (22/3)

Die Situation ist beinahe unwirklich: ein dreieckiges Grundstück inmitten gründerzeitlicher Blockrandbebauung in einem eben dafür bekannten Grazer Stadtteil. Hier, in St. Leonhard, findet sie sich, die “Grazer Elbphilharmonie”. Auf diesem städtebaulichen Reststück errichtete man 1957 – umgeben von einer Grünfläche, nach dem Entwurf des österreichischen Architekten Friedrich Moser (* 1926) – den kleinen freistehenden Ableger der Stadtbücherei. Bis Ende der 1980er Jahre wurde dieses kleine Bauwerk als Bibliothek genutzt, dann kam das Studentische Wohnungsservice (im Österreichischen heißt es das Service). Von der Vermittlung von Büchern zur Vermittlung von Wohnraum, solche Analogien gäbe es viele. Zwischen dem Buch und dem Haus, zwischen dem Bauen eines Texts und dem Bauen eines Hauses. In diesem Text möchte ich aber nicht die gängigsten Metaphern aufzählen, die ohnehin zur Genüge publiziert werden.

Graz, Kiosk der Stadtbücherei (Bild: Daniel Hülseweg)

Graz, Kiosk der Stadtbücherei (Bild: Daniel Hülseweg)

Die “Grazer Elbphilharmonie”

Die Grazer Bevölkerung gab dem Kiosk der Stadtbücherei zunächst den Namen “Bröselmühle”, angelehnt an das Gerät zur Herstellung von Semmelbröseln. Dessen aufgesetzter Aufnahmebehälter für grobe Stücke folgt einer ähnlichen Form wie der Dachabschluss des Bücherei-Kiosk. Auch die Dimensionen, freilich höherskaliert, erinnern an diese Maschine zum Mahlen von getrocknetem Brot. Auf einem Sockel ruht als Erdgeschoss ein hinauskragender Quader mit einer Seitenlänge von sechs Metern, der großflächig verglast ist. Darüber erhebt sich ein Betonkubus geringeren Ausmaßes mit einem als Flachdach ausgebildeten, konkaven Dachabschluss. Diese Form bringt dann auch Assoziationen mit dem berühmten Hamburger Konzerthaus mit sich. Kürzlich etablierte sich entsprechend der Spitzname “Elbphilharmonie der Rechbauerstraße”, der vom Architekturfotografen Simon Oberhofer stammt.

Zur Eröffnung betitelte die Grazer Kleine Zeitung den Kiosk 1957 als Kulturbunker – ein heute etwas plattgetretener Ausdruck, der auf das weitgehend geschlossene Obergeschoss anspielt. Dieser zurückgesetzte Bücherspeicher diente als Magazin, in dem die meisten Schriften aufbewahrt wurden. Jene Bücher im lichterfüllteren, etwas erhöhten Erdgeschoss hingegen waren als Freihandaufstellung zugänglich. Auf einer Nutzfläche von 50 Quadratmetern hatte der Kiosk, kurz bevor er in den späten 1980er Jahren aufgegeben wurde, eine Kapazität von 15.000 Bänden aus den Gebieten Belletristik, Sachbuch und Jugendbuch – bei einer damaligen Gesamtkapazität der Stadtbücherei von 125.000 Bänden. Die beiden Ebenen sind durch eine schmale, steile, einläufige Treppe miteinander verbunden.

Graz, Kiosk der Stadtbücherei (Bild: Sophia Walk)

Der Architekt

Auch von Graz aus schauten die Architekten (zu jener Zeit gab es leider nur wenige Architektinnen, die Bekanntheit erlangten) auf Le Corbusier – zu ihnen gehörte Friedrich Moser, wie der Kritiker Friedrich Achleitner schrieb. Metaphorik und Analogien zwischen Architektur und Buch sind, wie bereits erwähnt, publizistisch annähernd durchdekliniert. Was hinzuzufügen wäre, ist die Kulturtechnik des Blätterns. Sie wiederholt sich in der Dachform der kleinen Stadtbücherei, die an ein aufgeschlagenes Buch erinnern soll. Wenn es wirklich die oft zitierten Parallelen gibt zwischen dem Architektur-Entwerfen und dem Buch-Machen, wie blättern wir dann durch ein Haus? Hat ein Bauwerk Eselsohren, braucht es ein Lesezeichen? Und werden in digitalen Zeiten eigentlich noch Blumen in Büchern getrocknet?

Büchereien können einen bisweilen mit ihren schier endlosen Regalmetern erschlagen. In seiner überschaubaren Präsenz hat dieser Kiosk jedoch einen menschlichen Maßstab. Eine ganze Generation drückte sich hier im Kindesalter ihre Nase an den Scheiben platt. Mit dem Buch wurde sie in die Kulturtechniken des Lesens, des Blätterns eingeführt. So lässt sich anhand dieser Kleinarchitektur auch über Proportion und Kontext nachdenken – wie wir Stadt nutzen und in welche Beziehung wir mit der gebauten Welt treten wollen und können. Diese Filiale der Stadtbücherei ist das Reclam-Büchlein unter den Bibliotheken. Mit leicht vergilbten Seiten, die als Klassiker einige Umzüge mitgemacht haben. Auf denen die mit Bleistift verfassten Notizen daran erinnern, dass in dieses kleine Büchlein auch weiterhin Erzählungen und Interpretationen hinzugefügt werden.

Als Ende der 1980er Jahre das Studentische Wohnungsservice in den Pavillon einzog, wurden in den Innenraum eindeutig als postmodern zu lesende Elemente eingebracht. Sie wagten zwar eine Symbiose mit der bauzeitlichen Architektursprache, während der Kiosk selbst noch in der Moderne der 1920er Jahre verhaftet war. Dennoch wirken sie wie die Notizen und Unterstreichungen, die wir zu Schulzeiten in unseren Reclam-Büchern hinterlassen haben und die uns heute, Jahre später, seltsam unverständlich vorkommen. Die Nutzung als Wohnungsservice ist sicher zu begrüßen. Dennoch wäre der Bröselmühle künftig eine Funktion zu wünschen, die einer breiteren Stadtbevölkerung leichter öffentlich zugänglich wäre – vielleicht als Ausstellungsraum der nahegelegenen Architekturfakultät der Technischen Universität Graz.

Graz, Trafohäuschen im Vordergrund, Stadtbücherei-Kiosk im Hintergrund (Bild: Sophia Walk)

Über die Straße

Direkt neben der ehemaligen Stadtbücherei steht übrigens noch ein Reclam-Buch: ein Trafohäuschen, das sich in seiner architektonischen Formensprache dem umgebenden gründerzeitlichen Stadtteil verschreibt. Und wenn ich so in mein Bücherregal schaue, wäre dieses Trafohäuschen wohl das Reclam-Buch zu E. T. A. Hoffmanns “Das Fräulein von Scuderi” und der Stadtbücherei-Kiosk von Friedrich Moser wäre Heinz Erhardts “Von der Pampelmuse geküsst”. Weiters gäbe es da noch das zeitgenössische und von verschiedenen Autoren verfasste “die cops ham mein handy”, das für all die Small Heritages der Gegenwart und Zukunft steht und das dieses Kleinbuch wie Kleinarchitektur im 21. Jahrhundert ankommen lässt. Um die Unwirklichkeit der vorgefundenen städtebaulichen Situation perfekt zu machen, lehnen am Trafohäuschen heute zwei offene Bücherregale, aus denen sich die Grazer:innen bedienen können und dort auch eigene Bücher hinterlassen können. Vielleicht bringe ich mal meine Reclam-Sammlung dorthin.

Literatur

Achleitner, Friedrich, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer in drei Bänden. Band II. Kärnten Steiermark Burgenland, Salzburg-Wien 1983, S. 360

Ecker, Dietrich, Architektur in Graz 1980-1990. Anhang 32 Bauten 1952-1979, Graz 1992, 2. erweiterte Auflage, Graz 1992, S. 27

Hilzensauer, Erik, (Bearb.), Die Kunstdenkmäler der Stadt Graz, Die Profanbauten des II., III. und VI. Bezirkes, Altstadt (Österreichische Kunsttopographie LX), hg. vom Bundesdenkmalamt, Horn-Wien 2013, S. 235

Jaksch, Walter/Fischer, Edith/Kroller, Franz, Österreichischer Bibliotheksbau. 1945-1985, Bd. 2, Wien-Köln-Graz, 1986, S. 236 f.

Wagner, Anselm/Walk, Sophia (Hg.), Architekturführer Graz, Berlin, 2019, S. 307

Graz, Kiosk der Stadtbücherei (Bild: © Daniel Hülseweg)

Bild/Titelmotiv: Graz, Kiosk der Stadtbücherei (Bild: Daniel Hülseweg)



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Bonus-Beitrag

Inhalt

Das blaue M

Das blaue M

Barbara Dechant über einen letzten Zeugen der “Berliner Markthalle”.

Die Telefonzelle

Die Telefonzelle

Svenja Hönig und Fabian Schmerbeck über die Zeiten, als ein Telefon noch ein Kabel und ein Dach hatte.

Die Bröselmühle

Die Bröselmühle

Sophia Walk über den Kiosk der Stadtbücherei, geformt wie ein geöffnetes Buch.

Tina, Emma und ich

Tina, Emma und ich

Michael Grote über sein Stück Freiheit auf zwei Rädern.

Die Rathaustasse

Die Rathaustasse

Cordula Schulze über das Souvenir eines 40. Geburtstags.

Die Tier-Pavillons

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Nini Palavandishvili über abchasische Fantasiegebilde.

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Martin Turck über einen seltenen Designklassiker.

Das Schmetterlingsdach

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Mark Meusel über Haus Paepke im hessischen Carlsdorf.

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Karin Berkemann über eine bemerkenswerte Zutat der Greifswalder Altstadtplatte.

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