von Oliver Sukrow (21/4)

„Die Schulhäuser nur für die Schüler!“ – so lautet ein wesentliches Credo des modernen Schulbaus, für das sich Pädagog:innen, Lehrer:innen, Politiker:innen und Architekt:innen seit dem späten 19. Jahrhundert einsetzten. Die Moderne trat mit dem Anspruch auf Verbesserung der Schulhygiene, der Lehr- und Lernbedingungen auf, Licht, Luft und Sonne sollten noch jede so kleine Landschule erreichen, eine räumliche Trennung von Lehrenden und Lernenden zum beiderseitigen Vorteil erreicht werden. Von den Reformansätzen Johann Heinrich Pestalozzis in der Schweiz um 1800 über die Freiluftschulen der klassischen Moderne bis zu den multifunktionalen Schulzentren der 1970er Jahre lassen sich vielfältige architektonische Innovationen studieren, die jeweils spezifische Lern- und Lehrumwelten ausbildeten.

Seeheim-Jugenheim, chuldorf Bergstraße, Blick von der Aula auf die überdachten Verbindungsgänge zwischen den Schulgebäuden, 1952–1954 (Bild: © Oliver Sukrow, 2021)

Seeheim-Jugenheim, Schuldorf Bergstraße, Blick von der Aula auf die überdachten Verbindungsgänge zwischen den Schulgebäuden, 1952–1954 (Bild: © Oliver Sukrow, 2021)

Die Öffnung des Klassenraums

Dass der uns umgebende Raum bildet und Bildung durch Raum möglich ist, war schon in der Antike bekannt. Vielfältig sind die Erscheinungsformen von Bildungs-Räumen, an ihnen lassen sich gesellschaftliche, politische und edukative Konzepte erkennen. Die Moderne formulierte nicht nur die Lerninhalte neu, sondern wollte auch die Lernumwelt verändern: Weg von der Repräsentanz, der Statik (fest installierte Bänke!) und der Schwere wilhelminischer Schulpaläste, hin zu Naturnähe, Funktionalität und Ungebundenheit (tragbare Hocker!), etwa von Ernst Mays Hallgartenschule in Frankfurt am Main (1929–1930). Damit war auch ein positiv konnotiertes gesellschaftspolitisches Programm formuliert, an das nach dem Nationalsozialismus inhaltlich wie baulich angeknüpft werden konnte.

Wesentlich in der Wiederaneignung des modernen Schulbaus nach 1945 in Ost und West waren transnationale Kontakte und Wissenstransfer durch Architekt:innenreisen, die zum Beispiel der Stuttgarter Architekt und UIA-Schulbaukommissionsmitglied Günter Wilhelm (1908–2004) 1949 in die USA unternahm. Im Auftrag der US-amerikanischen Militärregierung begab sich Wilhelm auf eine Grand Tour, um auf der anderen Seite des Atlantiks unter anderem das Konzept der open-air-schools zu studieren und auf Anwendbarkeit in der US-amerikanischen Besatzungszone zu prüfen. Die Öffnung des ebenerdigen Klassenraums zum Garten sollte die Demokratisierung und re-education der Kinder und Jugendlichen unterstützen.

Überhaupt war die Rolle der Alliierten und ihrer jeweiligen Vorstellungen von Bildung ein ausschlaggebender Rahmenfaktor beim Neubau von Schulen. Gerade in den 1950er Jahren sind programmatische Entscheidungen zwischen ‚westlichen‘ Modellen (Seeheim-Jugenheim, Schuldorf Bergstraße, 1952–1954) und stalinistischen Monumentalbauten (Berlin-Friedrichshain, Max-Kreuziger-Schule, 1953–1954) gefallen. Und zuletzt gilt es die Architekturzeitschriften der Nachkriegszeit zu nennen: Insbesondere in den schweizerischen Journalen konnten sich Architekt:innen und Politiker:innen über die neuesten Trends des modernen Schulbaus informieren und transnationalen Austausch praktizieren.

Berlin-Friedrichshain, Max-Kreuziger-Schule (Hans Schmidt, 1953–1954) (Bild: Bundesarchiv, Bild 183-64682-0001, CC BY SA 3.0, 1959)

Berlin-Friedrichshain, Max-Kreuziger-Schule (Hans Schmidt, 1953–1954) (Bild: Bundesarchiv, Bild 183-64682-0001, CC BY SA 3.0, 1959)

Bildung nach dem “Sputnikschock”

Von „Bildungskatastrophe“ und „Sputnikschock“ – also von krisenhaften Erscheinungen der Schulsysteme der Nachkriegszeit und den Reaktionen unter den Bedingungen des Kalten Krieges – erzählte unlängst eine umfassende, von Tom Holert kuratierte Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Eine zentrale Antwort auf die Herausforderungen des sich ab den 1960er Jahren anbahnenden Fachkräftemangels im beginnenden Dienstleistungszeitalter lag – sowohl in Ost als auch in West – im massiven Ausbau des primären, sekundären und tertiären Bildungssektors. Das schlug sich im Boom der Schulneubauten ab den 1960er Jahren nieder. Im Sonderheft nehmen uns Peter Liptau und Maximilian Kraemer mit auf eine bunte visuelle Zeitreise in die Welt der modernen Baumaterialien und Stoffe, aus denen neue Bildungsträume wahr werden sollten. Arne Herbote berichtet im Artikel zu „PJS“ über ein exemplarisches Büro dieser Zeit, das sich auf den Bildungsbau spezialisiert hatte, mit einladend gestalteten Schulhäusern zwischen Braunschweig, Berlin und Hamburg reüssierte und Generationen von Schüler:innen architektonisch prägte.

Zeitgleich mit den Aufbrüchen in der Bundesrepublik reformierte sich in der DDR ab den 1970er Jahren der Bildungsbereich und damit auch der Schulbau. Angeregt von typologischen Auseinandersetzungen mit der klassischen Moderne und zeitgenössischen Bildungsarchitekturen in der Schweiz, Frankreich, England, Skandinavien und den USA, aber auch mit sowjetischen Beispielen, legte UIA-Mitglied Helmut Trauzettel in Dresden neuartige Typenentwürfe für Polytechnische Oberschulen (POS) vor, die eine geschickte Verbindung von bautechnischen Anforderungen und bildungspolitischen Zielen aufzeigen. Wie Dina Dorothea Falbe in ihrem Aufsatz schreibt, stellten die Schulbauten in der DDR gebaute Repräsentationen von politisch-geleiteten Fortschrittsvorstellungen dar, wobei Trauzettels Experimente ebenso für eine geistige Öffnung standen.

Stuttgart, Freie Waldorfschule Uhlandshöhe, Festsaal, 1975–1977 (BPR), Ansicht der Nord-Fassade (Foto: © Steffen Fuchs, Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg, 2020)

Alexandra Vinzenz porträtiert in ihrem Beitrag den Waldorf-Schulbau (Motiv: Stuttgart, Freie Waldorfschule Uhlandshöhe, Festsaal, 1975–1977 (BPR), Ansicht der Nord-Fassade, Foto: © Steffen Fuchs, Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg, 2020)

Multivariabel und reformorientiert

In den Jahren des Booms änderten sich nicht nur die Baumaterialien, sondern auch die Ansprüche an den Schulbau: Wie Maximilian Kraemer anhand der Mittelschule von Bad Friedrichshall (Roland Ostertag, 1962–1967) zeigen kann, suchte die aufstrebende, aber doch noch recht neue Industriestadt am Neckar nicht nur ein neues Schulgebäude, sondern gleich ein neues Stadtzentrum, was Ostertag dann auch lieferte. Dieser Zug zur flexiblen, multivariablen Nutzung ist sowohl in West als auch in Ost ab den 1970er Jahren nachvollziehbar. Auch hier kann eine transnationale Verbindungslinie zum englischen und US-amerikanischen Schulbau der Nachkriegszeit gezogen werden, wo die soziale Rolle des Schulbaus in einem dörflichen oder städtischen Gemeinschaftsgefüge bereits seit den 1950er Jahren diskutiert und umgesetzt worden war.

Dass der Schulbau seit der Aufklärung, besonders aber durch die Sozial- und Bildungsreformer:innen im 19. Jahrhundert, zu einem Feld der intensiven Auseinandersetzung um das Konzept von ‘Kindheit’ und den Wert der Bildung für die Gesellschaft avancierte, ja dass die Schule und ihre Architektur zu einem ideologischen Diskursthema wurde, zeigt Alexandra Vinzenz in ihrem Aufsatz über die bislang unterbeleuchteten deutschen Waldorfschulen: Wie wurde das reformpädagogische Konzept der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und danach baulich weiterentwickelt? Gibt es so etwas wie eine spezielle Waldorfästhetik? Wie verhalten sich generell Bildungs- und architektonische Konzepte zueinander?

Wörth, Europa-Gymnasium (Bild: Gregor Zoyzoyla)

Gregor Zoyzoyla berichtet im Interview über das Europa-Gymnasium in Wörth (Bild: Gregor Zoyzoyla)

Inklusiv und sozial gerecht

Ob und mit welchen Maßnahmen die Schulgebäude der Nachkriegszeit – sei es in Bad Friedrichshall oder in Eisenhüttenstadt – energetisch, funktional, technologisch und gestalterisch an die Bedingungen des Post-Covid-Zeitalters angepasst werden können und welche Möglichkeiten in den Schulbauten der Moderne (noch) stecken, das zeigen die Beiträge in diesem Sonderheft, nicht zuletzt auch die beeindruckenden Aufnahmen des Europa-Gymnasiums in Wörth am Rhein (Egon Seidel, 1968–1975), das als einer der wenigen Nachkriegsschulbauten in Rheinland-Pfalz Denkmalschutz genießt. Der Fotograf Gregor Zoyzoyla zeigt uns seinen Blick auf die Qualitäten des spätmodernen Baus, der sich in kontinuierlicher Nutzung befindet.

Wie man auch immer zum Schulbau der Moderne steht: Sicher ist in jedem Fall, dass die baulichen Zeugnisse dieser Epoche eine zentrale Rolle in städtebaulichen Überlegungen, Nachhaltigkeitsdiskussionen und denkmalpflegerischen Fragestellungen einnehmen sollten. Die architektonische Hülle der Bildungsbauten muss als wesentlicher Faktor einer heute zu Recht eingeforderten inklusiven und sozial gerechten Schule stetig neu ausgehandelt werden. Die hier präsentierten Lösungen laden zum historischen Studium und zum gegenwartsbezogenen Nachdenken über diese und andere Fragen ein.

Literatur

Roth, Alfred, Bemerkungen zum modernen Schulbau in den Vereinigten Staaten, in: Werk 37, 1950, S. 294–298.

Schulbau heute. Vorträge und Entschliessungen bei der Schulbautagung in Stuttgart vom 7. bis 9. März 1950, hg. von der Landesanstalt für Erziehung und Unterricht, Stuttgart 1950.

Kroner, Walter, Schule im Wandel. Wandel im Schulbau, Stuttgart 1975.

Butter, Andreas, Waldidyll und Fensterband. Die Moderne im Schulbau der SBZ/DDR von 1945–1951, in: Barth, Holger (Hg.), Projekt sozialistische Stadt. Beiträge zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR, Berlin 1998, S. 183–191.

Schmucker, Alfred Bruno, Schulbau in Bayern 1945–1975. Von der Zwergschule zum Schulzentrum, vom Pavillon zur Großstruktur, Frankfurt am Main 2021.

Renz, Kerstin, Testfall der Moderne. Diskurs und Transfer im Schulbau der 1950er Jahre, Tübingen/Berlin 2016.

Darian-Smith, Kate/Willis, Julie (Hg.), Designing Schools. Space, Place, and Pedagogy, London 2016.

Droit, Emmanuel, Wie Schulräume politisiert wurden. Strategien und Grenzen der DDR-Erziehungsdiktatur in den frühen 1950er Jahren, in: Deutschland Archiv, 22. Juni 2016.

Spycher, Ernst, Bauten für die Bildung. Die Entwicklung der Basler Schulhausbauten im nationalen und internationalen Kontext, Basel 2019.

Hess, Regine, Nationaler Traditionsbau oder Freiluftpavillons? Schulen der Nachkriegszeit – auf Demokratie gebaut, in: Kunstchronik 2019, 9/10, S. 508–513.

Holert, Tom (Hg.), Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren, hg. vom Haus der Kulturen der Welt, Berlin/Boston 2020.

Dieser Artikel basiert (zum Teil) auf Forschung, die im Rahmen des Projekts “Transnationaler Schulbau” durchgeführt und vom Austrian Science Fund (FWF), Projektnummer P 33248-G, finanziert wurden.

Los Angeles, Corona Avenue School (Richard Neutra, 1953), Klassenzimmer im Freien (Foto: Julius Shulman, 1953, Bild: © J. Paul Getty Trust. Getty Research Institute, Los Angeles (2004.R.10))

Titelmotiv: Los Angeles, Corona Avenue School (Richard Neutra, 1953), Klassenzimmer im Freien (Foto: Julius Shulman, 1953, Bild: © J. Paul Getty Trust. Getty Research Institute, Los Angeles (2004.R.10))



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Inhalt

LEITARTIKEL: Bildungs(t)räume

LEITARTIKEL: Bildungs(t)räume

Oliver Sukrow über die Moderne im Schulbau.

FACHBEITRAG: Waldorfschulen

FACHBEITRAG: Waldorfschulen

Alexandra Vinzenz über das architektonische Konzept jenseits des Klischees.

FACHBEITRAG: Schulkollektiv und Polytechnik

FACHBEITRAG: Schulkollektiv und Polytechnik

Dina Dorothea Falbe über den DDR-Schulbau von Ludwig Deiters bis Helmut Trauzettel.

FACHBEITRAG: Farbenfrohe Schulhäuser von PJS

FACHBEITRAG: Farbenfrohe Schulhäuser von PJS

Arne Herbote über die Bildungsbauten des Büros Pysall, Jensen, Stahrenberg & Partner.

PORTRÄT: Ostertags Realschule in Bad Friedrichshall

PORTRÄT: Ostertags Realschule in Bad Friedrichshall

Maximilian Kraemer über einen bemerkenswerten Schulbau des Architekten Roland Ostertag.

FOTOSTRECKE: Holzstuhl und Linoleumboden

FOTOSTRECKE: Holzstuhl und Linoleumboden

Die bunte Welt der Lehrmittel im Spiegel der Werbebilder der Nachkriegszeit.

INTERVIEW: Gregor Zoyzoyla zum Europagymnasium Wörth

INTERVIEW: Gregor Zoyzoyla zum Europagymnasium Wörth

Der Architekturfotograf hat mit Schüler:innen einen modernen Bau erkundet.

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