Ein Buch, das einen adrett gekleideten Reiter hoch zu Pferde vor einem Hochhausriegel zeigt, kann nicht verkehrt sein. Aber, bleiben wir bei den Inhalten von “Transformative Partizipation”. Matthias Brunner, Maren Harnack, Natalie Heger und Hans Jürgen Schmitz vom Forschungslabors Nachkriegsmoderne an der Frankfurt University of Applied Sciences haben einen neuen Sammelband zusammengestellt, wie sich Siedlungen 1945+ gemeinschaftlich erhalten und weiterentwickeln lassen. Wo in der ähnlich strukturierten englischsprachigen Publikation im letzten Jahr mehr die bauhistorischen Fachleute von außen analysierten, kommen jetzt im deutschsprachigen Pendant die Initiativen zu Wort. Mit dabei sind prominente Projekte wie rund um die Platte in Leipzig-Grünau und zu Unrecht weniger bekanntes Engagement wie in Darmstadt-Kranichstein. Schon die Bauzeit selbst wollte die Bedürfnisse der Bewohner:innen architektonisch aufgreifen (wusste noch nicht recht, wie, so die These des Buchs). Doch nun gebe es eine Reihe professioneller “Partizipationsexpert*innen” mit guten Ideen. Solange Gestaltungsspielraum, Erwartungen und Ziele klar abgesteckt und alle relevanten Akteur:innen mit im Boot seien, könne einem wirklich Überraschendes vor dem Hochhausraster begegnen.

Öffentliche Orte

Wo in vielen Quartieren längst Post und Ladenzentrum geschlossen haben, sind Kirchenräume oft die letzte öffentliche Raumreserve. Aber auch diese Bauten geraten zunehmend unter Druck. Kirche hat ihre Vorsilbe verloren, denn sie kann das “Volks” inzwischen ebenso wenig im Namen führen wie einige der ehemals großen Parteien. Aber wie man sich aus der ehemals bequemen gesellschaftlichen Mitte heraus einen neuen Platz erobern kann, daran kauen die Berufschrist:innen noch. In den vergangenen Jahren hat sich dafür eine eigene Denkschule ausgebildet: die Öffentliche Theologie. Aus diesem Umfeld haben Ulrich H. J. Körtner, Reiner Anselm und Christian Albrecht verschiedenste Beiträge über “Konzepte und Räume” zu einem Buch gebündelt. Entstanden ist ein umfassender Überblick über Richtungen (manche sehen sich als integraler Bestandteil, andere als das beratendes Gegenüber der Gesellschaft) und Anwendungsgebiete (zwischen Ethik und Diakonie). Obwohl viel von Orten und Räumen die Rede ist, sucht man das konkret Bauliche vergeblich. Dafür wird, und diese Leistung ist kaum zu überschätzen, eine Brücke zwischen scheinbar unversöhnlichen Lagern geschlagen.

Sichtbare Teilhabe

Am Ende geht es nur gemeinsam, will man den öffentlichen Raum nicht den ökonomisch getönten Regeln einer neoliberalen Gesellschaft überlassen. Denn der Kampf um die innerstädtischen Freiflächen hat längst begonnen. Wer ohne sichtbares Kaufansinnen in der Fußgängerzone umherstreift, hat es schwer. Erst recht, wenn man in Kleidung, Verhalten oder Hygienezustand aus dem bürgerlichen Raster fällt. In ihrer neuen Publikation “Die fragmentierte Stadt” haben sich Jürgen Krusche, Aya Domenig, Thomas Schärer und Julia Weber mit der Frage auseinandergesetzt, wer sich wo, wann, wie aufhalten darf, wie Teilhabe und deren Gegenteil im städtischen Raum genau aussehen. Dafür haben die Autor:innen viel hingeschaut, sensibel dokumentiert, künstlerisch aufbereitet und Strategien hinterfragt, wie sich Teilhabe auch jenseits der gutbetuchten Mitte organisieren lässt. Darin sind sich die drei hier vorgestellten Neuerscheinungen einig: Der Markt allein wird es nicht richten. Es braucht gute Ideen und kluge Strategien, um den öffentlichen Raum als Frei- und Spielfläche zurückzugewinnen. (kb, 23.10.21)

Brunner, Matthias/Harnack, Maren/Heger, Natalie/Schmitz, Hans Jürgen (Hg.), Transformative Partizipation. Strategien für den Siedlungsbau der Nachkriegsmoderne, Berlin 2021, Broschur, 16,5 × 24 cm, 160 Seiten, 65 Farb- und Schwarz-Weiß-Abbildungen, ISBN 978-3-86859-691-5.

Körtner, Ulrich H. J./Anselm, Reiner/Albrecht, Christian (Hg.), Konzepte und Räume Öffentlicher Theologie. Wissenschaft – Kirche – Diakonie (Öffentliche Theologie 39), Leipzig 2020, 312 Seiten, 15,5 x 23 cm, Paperback, ISBN 978-3-374-06394-9.

Krusche, Jürgen/Domenig, Aya/Schärer, Thomas/Weber, Julia, Die fragmentierte Stadt. Exklusion und Teilhabe im öffentlichen Raum, Berlin 2021, Schweizer Broschur, 17 × 22 cm, 208 Seiten, ISBN 978-3-86859-643-4.

Unbedingt lesen!

Ferdinand Kramer zum 125.

Ferdinand Kramer zum 125.

Ab 4. November heißt es im Frankfurter Museum Angewandte Kunst “Kramer lieben” – zum Geburtstag des einstigen Universitätsbaumeisters.

Stadthalle Wattenscheid bedroht?

Stadthalle Wattenscheid bedroht?

Die geplante Sanierung der denkmalgeschützten Stadthalle Wattenscheid droht an der allgemeinen Kostenexplosion zu platzen.

Die Stadt und die Startbahn West

Die Stadt und die Startbahn West

In der Reihe Stadt+ des DAM Frankfurt geht es am 8. November um den Protest gegen den Flughafenausbau ab 1980.

mR-PODCAST 5: Mit den Betonisten zu einem jungen Blick auf die Moderne

mR-PODCAST 5: Mit den Betonisten zu einem jungen Blick auf die Moderne

Die jungen Betonisten sind erwachsen geworden: Seit 2018/19 engagieren sich Studierende (nicht nur) der Kunstgeschichte in Mainz mit kreativen Aktionen für die Nachkriegsmoderne. Robinson Michel, inzwischen Volontär bei der hessischen Landesdenkmalpflege, spricht über die Anfänge, die Erfolge und die nächste Generation der Initiative.

Köln zum Blättern

Köln zum Blättern

110 moderne Bauten der Rheinmetropole bibliophil verpackt und erläutert – die neue, überarbeitete Auflage des Architekturführers Köln ist da.

Die weiche Seite Washingtons

Die weiche Seite Washingtons

Was tun mit einem Vorzeigebeispiel von Marcel Breuers “Soft Brutalism” in Washington DC? Das Feuilleton raschelt vernehmlich und eine Ausstellung wagt einen Blick in die Zukunft.

Blessed Brutalism

Blessed Brutalism

Kirchen des europäischen Betonbrutalismus, ästhetisch fotografiert von Michael Revill, gibt es jetzt unter dem Titel “Blessed Brutalism” als Buch und als Ausstellung zu bestaunen.

Einpassung und Eigensinn

Einpassung und Eigensinn

Ein neues Buch gibt einen Überblick über das Werk des Kölner Architekten Walter von Lom.

Grün hinter den postmodernen Ohren

Grün hinter den postmodernen Ohren

In der Reihe “Jung, aber Denkmal” diskutieren Expert:innen am 7. November 2023 ab 19.30 Uhr in der Urania in Berlin über “Gärten, Parks & Grünanlagen der IBA 84/87”.

Die lange Kette

Die lange Kette

Vor 40 Jahren bildete, am 22. Oktober 1983, protestierten Friedensbewegte mit einer Menschenkette zwischen Neu-Ulm- und Stuttgart-Vaihingen gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen. Daran erinnert nun eine neue Publikation.

mR-PODCAST 4: Mit Steffen Popp zu Helga Hüller und der Altstadtplatte

mR-PODCAST 4: Mit Steffen Popp zu Helga Hüller und der Altstadtplatte

Es ist ein Gespräch über Bande: Mit Helga Hüller, in den 1970er Jahren Stadtbaudirektorin von Greifswald, war ein Interview altersbedingt leider nicht mehr möglich. Aber ihr Enkel, der Lyriker Steffen Popp, hat mit ihr vor Jahren in einem familiären Erinnerungsprojekt über Vergangenes gesprochen – auch über die Entstehungszeit der Altstadtplatte. Und als gebürtiger Greifswald hat ...

Vollbremsung

Vollbremsung

Cordula Schulze hat für moderneREGIONAL die zehn schönsten Motive aus ihrer digitalen Fotobox hervorgeholt.

St. Michael wird Boulderchurch

St. Michael wird Boulderchurch

Erst fiel der Turm, jetzt soll das verbliebene Schiff von St. Michael in Bad Orb zur Kletterhalle umgenutzt werden.

Being a Ukrainian Architect During Wartime

Being a Ukrainian Architect During Wartime

Gleich zwei neue Bücher bieten einen Einblick in die ukrainische Architekturszene zwischen 1925 und heute.

LEITARTIKEL: Recycling der Moderne

LEITARTIKEL: Recycling der Moderne

Hans-Rudolf Meier über die Wiederverwendung als vergessenes Prinzip der Moderne.

Anmelden

Registrieren

Passwort zurücksetzen

Bitte gib deinen Benutzernamen oder deine E-Mail-Adresse an. Du erhältst anschließend einen Link zur Erstellung eines neuen Passworts per E-Mail.